Die Tür zum Cottage stand einen Spaltbreit offen. Aus dem Haus kamen Geräusche und ein leises Klappern, als hätte jemand eine Pfanne oder einen Topf fallen lassen.

Meredith drückte die Tür weiter auf und spähte ins Halbdunkel dahinter. Der offene Innenraum, den Ernie in einem Anfall von rasch wieder abklingendem Heimwerkertum durch das Herausschlagen von Trennwänden geschaffen hatte, lag genauso schmutzig und verwahrlost da wie eh und je. Kevin stand, wie Meredith überrascht feststellte, auf der anderen Seite des Raums mit dem Rücken zu ihr am Herd und kochte. Zumindest würde er nicht verhungern, wie Meredith eigentlich befürchtet hatte.

Vielleicht hatte er immer gekocht? Durchaus möglich, soweit Meredith es beurteilen konnte, dass er ein einigermaßen begabter Koch war, wenn er nicht gerade unter einem Schock litt. Sie öffnete den Mund, um seinen Namen zu rufen.

In diesem Augenblick drehte sich Kevin um. In den Händen hielt er mit Hilfe zweier Topflappen ein heißes Backblech. Er trug es vorsichtig zum Tisch und stand im Begriff, es dort abzusetzen, als er, vielleicht aufmerksam geworden durch einen Luftzug, Meredith in der Tür erblickte.

Das Resultat war erstaunlich. Kevin stieß einen Schrei aus und ließ das Backblech fallen. Es landete laut scheppernd auf dem Tisch. Er wich vor Meredith zurück, während er seine Topflappen an die Brust drückte und sie wild anstarrte.

»Keine Sorge, Kevin, ich bin es nur!«, sagte Meredith hastig und betrat den Raum.

»Es tut mir Leid, wenn ich Sie erschreckt habe, Kevin.« Ihr kam ein Gedanke, der vielleicht seine Nervosität erklärte.

»Waren die Zeitungsleute bei Ihnen? Haben sie Sie belästigt?« Ihre beruhigenden Worte halfen nicht, und ihr fragender Blick führte nur dazu, dass er die Augen niederschlug. Mit gesenktem Kopf murmelte er:

»Ich bin ihnen aus dem Weg gegangen. Hab mich auf den Feldern versteckt.«

»Gute Idee. Mein Freund und ich haben das Gleiche getan. Ich bin eigentlich nur vorbeigekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht. Offensichtlich kommen Sie zurecht.« Kevin schüttelte den Kopf und errötete.

»Ich brauche nichts.« Meredith spürte Verlegenheit in sich aufsteigen. Sie war ein Eindringling. Nicht eine alte Bekannte wie Wynne, sondern eine Samariterin, die ihn bevormunden und bemuttern wollte. Und nun stand sie dort und fand ihn geschäftig in seinem zugegebenermaßen schmuddeligen Heim. Wenn es ihn nicht störte – wer war sie, dass sie es kritisierte? Er kam ganz gut alleine zurecht. Sie konnte sich nicht einfach abwenden und gehen. Sie musste ihre Rolle als Lady Bountiful, als gute Fee zu Ende spielen. Wie die alte Dame aus dem Buch musste sie eine formelle, unbehagliche und einseitige Konversation führen, bevor sie ihren wohltätigen Beitrag leistete und in eine gesündere Umgebung flüchtete. Es hinter sich bringen. Meredith trat näher.

»Ich kann nicht lange bleiben, Kevin. Ich habe Inspector Crane versprochen, dass ich bei Ihnen vorbeischauen würde.« Das war ein weiterer Fehler. Die Polizei zu erwähnen war in keiner Weise dazu angetan, die Situation zu entspannen. Kevin leckte sich über die Lippen, und der abgebrochene Zahn schimmerte beunruhigend zwischen ihnen hindurch.

»Warum? Was will sie?«

»Nichts …« Meredith riss sich zusammen. Sie suchte verzweifelt nach einem anderen Thema, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Backblech.

»Was haben Sie gebacken, Kevin? Oh, Biskuits – Pfefferkuchenmänner, habe ich Recht?« Kevin stieß einen schrillen Schrei aus, ließ die Topflappen fallen und sprang auf sie zu. Im ersten Augenblick dachte Meredith, er wollte sie angreifen, und riss abwehrend die Hände hoch. Doch seine Gedanken drehten sich einzig und allein um Flucht, und sie war ein Hindernis in seinem Weg. Er stieß sie unsanft beiseite und rannte an ihr vorbei und durch die offene Tür nach draußen. Allein im Zimmer versuchte Meredith, ihrer Verblüffung Herr zu werden.

»Was um alles in der Welt …?«, murmelte sie.

»Was habe ich denn nur gesagt, dass er vor mir geflüchtet ist?«

»Aber vielleicht ist er ja tatsächlich plemplem«, fügte sie nachträglich hinzu. Sie blickte hinunter auf das Blech. Kevin beim Kochen anzutreffen war vielleicht gerade noch verständlich, doch beim Backen von derartigen Leckerbissen wie Pfefferkuchenbiskuits, das war erstaunlich. Meredith sah sich die Pfefferkuchenmänner genauer an. Kein Pfefferkuchen, nur einfacher Hefeteig. Ungenießbar, wie es aussah, grau, mit grober Hand geformt und nicht ausgestanzt … Meredith hielt den Atem an. Das waren keine Biskuits – es war überhaupt nicht zum Essen gedacht. Wenn sie richtig vermutete, diente es einem ganz anderen Zweck. Jede Figur unterschied sich von der anderen, die Frauen unterschieden sich von den Männern durch große Hefeteigbrüste. Es waren keine gewöhnlichen Figuren, sondern ganz bestimmte Personen. Sie waren noch zu heiß zum Anfassen. Meredith beugte sich über das Backblech, während sie versuchte, die einzelnen Figuren zu identifizieren. Ganz links in der Reihe und nach dem Hefeklumpen auf dem Kopf zu urteilen, repräsentierte die Figur Wynne mit ihrem Chignon. Zwei größere männliche Gestalten. Armitage? Crombie? Eine weibliche in einem Rock mit langen dünnen Beinen und grob dargestellten Haarsträhnen und einem kastenförmigen Ding in einer Hand war ohne Zweifel Amanda Crane mit ihrem Aktenkoffer. Eine weitere weibliche Gestalt, genauso groß wie die männlichen. Meredith hob sie vorsichtig auf und jonglierte sie in den Händen, um sich nicht daran zu verbrennen. Sie starrte nachdenklich auf das grinsende Hefeteiggesicht.

»Du«, sagte sie zu dem Hefemännchen.

»Du sollst mich darstellen, habe ich Recht?« Ich habe ihn unter vier Augen gefragt, was diese Dinge bedeuten sollten. Sir John Maundeville

KAPITEL 19

ICH BIN nicht abergläubisch, sagte sich Meredith entschieden. Doch hier in diesem abseits gelegenen Cottage, ganz allein, mit einem Backblech voller grotesker kleiner Figuren aus Hefeteig als einziger Gesellschaft, wäre auch über das entschlossenste Rückgrat ein Schauer gelaufen.

Nach dieser ersten Reaktion übernahm kühle Vernunft die Herrschaft. Meredith ging zur Tür, doch Kevin war verschwunden. Möglicherweise war er nicht weit gelaufen, sondern versteckte sich irgendwo dort draußen zwischen den Autowracks und dem Gestrüpp, während er darauf wartete, dass sie ging.

Sie kehrte zum Tisch zurück. Sie musste gehen, doch nicht ohne diese kleinen, bezaubernden Kreationen. Meredith hob einen der Lappen auf, die Kevin bei seiner Flucht hatte fallen lassen. Sie breitete ihn auf dem Tisch aus und begann, die Teigfiguren vom Backblech auf das Tuch zu legen. Sie waren noch immer heiß. Was hatte Kevin mit ihnen vorgehabt? Und wieso war er auf diese groteske Idee gekommen?

»Er hat von anderen gehört«, murmelte Meredith vor sich hin, um sich Mut zu machen, »die so etwas Ähnliches tun.« Doch sie wusste, dass auch durchaus mehr dahinter stecken konnte. Es gab eine Person in Parsloe St. John, die ihr mehr darüber sagen konnte.

Sie nahm an, dass das, was sie zu tun im Begriff stand, rein technisch betrachtet Diebstahl war. Doch wenn sie die Teigfiguren zurückließ, würde Kevin sie bei seiner Rückkehr ganz sicher beseitigen, genau wie jedes andere Zeugnis seiner amateurhaften Hexenversuche. Meredith rollte das Tuch vorsichtig zusammen und trug ihre Beute zur Tür.

»Kevin!«

Ihre Stimme echote über den verlassenen Hof und fing sich in den umgebenden Bäumen. Ein hässlicher schwarzer Vogel, der unsicher schwankend auf einem der hohen Äste saß, krächzte seine heisere Antwort.

»Wenn du Kevins Vertrauter bist«, sagte Meredith mit gespielter Tapferkeit, »dann sag ihm, dass ich seine scheußlichen kleinen Spielzeuge mitgenommen habe.« Sie hob das gebündelte Stofftuch.

Die Krähe spreizte ihre großen schwarzen Schwingen und flatterte unter misstönendem Geschrei davon. Das abergläubische Prickeln in Merediths Rücken kehrte zurück. Sie hatte der Kreatur eine Botschaft zum Übermitteln gegeben, und der Vogel hatte sich gehorsam in die Luft geschwungen, um sie irgendjemandem irgendwo zu übermitteln.

»Unsinn!«, sagte sich Meredith laut und so entschlossen, wie sie konnte. Einmal mehr erhob sie ihre Stimme.

»Kevin! Wenn Sie mich hören können – ich habe hier Ihre Biskuits und nehme sie mit!« Falls Kevin dort draußen auf dem Hof steckte, dann würde ihn das ganz bestimmt aus seinem Unterschlupf locken. Doch niemand antwortete, nicht einmal ein verräterisches Rascheln zwischen den verrosteten Metallhaufen oder im Gestrüpp war zu hören.

Merediths Gewissen war erleichtert. Sie hatte Kevin gesagt, dass sie seine Backerzeugnisse mitnehmen würde, und es war nicht ihre Schuld, wenn er so weit weggelaufen war, dass er sie nicht mehr hören konnte.

Das Geschlossen-Schild hing immer noch in der Tür von WIR-HABEN-ALLES. Unbeirrt klopfte Meredith. Das Schild hinter der Scheibe erzitterte unter ihrem entschlossenen Ansturm. Sie wartete eine Weile, dann klopfte sie erneut.

Nach wenigen Minuten wurde ihre Beharrlichkeit belohnt. Sie bemerkte eine Bewegung im Innern des Ladens. Sie drückte ihre Nase gegen die schmutzige Scheibe. Im hinteren Teil des Ladens hatte sich der Perlenvorhang geteilt, und eine massige Gestalt näherte sich der Tür.

Sadie erschien auf der anderen Seite der Scheibe, diesmal in einem anderen Kleid, das jedoch auch wie ein Zelt geformt war. Ihr Mund bewegte sich lautlos, als sie sich nach dem Zweck von Merediths Besuch erkundigte.

Meredith hob das Stoffbündel und deutete mit der anderen Hand darauf. Sadie konnte nicht wissen, was es enthielt, doch ihre Neugier, dessen war sich Meredith sicher, würde sie veranlassen, die Tür aufzusperren, und so war es dann auch.

»Was gibt’s denn?«, fragte Sadie anstelle einer Begrüßung missmutig.

»Ich hab heute geschlossen. Ich habe Kopfschmerzen.« Du wirst bald noch schlimmere Kopfschmerzen haben, Süße, wenn wir miteinander fertig sind …, dachte Meredith unfreundlich.

»Ich dachte, Sie sollten einen Blick auf das hier werfen«, sagte sie laut.

»Tut mir Leid, wenn ich Sie störe«, fügte sie der Form halber hinzu. Doch Höflichkeit und Form konnten Sadie nicht beschwichtigen, die das Bündel verdrossen anstarrte.

»Können Sie nicht morgen damit wiederkommen?« Meredith blieb ungerührt stehen.

»Wir sollten wirklich jetzt darüber reden.«

»Also schön, meinetwegen.« Sadie trat beiseite und ließ Meredith in den winzigen Laden. Hinter Meredith verschloss sie augenblicklich die Tür und verriegelte sie. Meredith überlegte, dass sie nun zusammen mit Sadie eingesperrt war – und es sprach einiges dafür, dass sie diejenige war, die im Dorf Amok lief –, und niemand wusste etwas über ihren Verbleib. Hoffentlich hatte sie nicht voreilig gehandelt. Sadie hatte sich umgewandt und trottete vor Meredith her zum Perlenvorhang. Sie gingen hindurch und einen schmalen Flur hinunter und kamen in einem gemütlichen Wohnzimmer heraus. Gemütlich, was das Mobiliar anging, heißt das. Die Dekoration hingegen war höchst beunruhigend. Sadie sammelte Dinge, die entweder Volkskunst oder ethnische Kuriositäten darstellten. In unregelmäßigen Abständen hingen geschnitzte Holzmasken an den Wänden. Eine Holzkommode war mit handgetöpferten Schalen überladen, einige davon mit drei Beinen, dazu Becher und primitive Figuren, von denen die meisten weiblich bis ins Groteske waren, mit gewaltigen ausladenden Hüften und Bäuchen und schweren Brüsten, doch in manchen Fällen ohne Arme oder Beine. Unter alldem gab es andere merkwürdige Dinge von obskurer, wahrscheinlich okkulter Bedeutung. Ein Bild an der Wand, ein schriller, handgefärbter Druck, zeigte tanzende Frauen in Kleidern des siebzehnten Jahrhunderts. Nach ihrer Haltung zu urteilen war es ein schottischer Reel oder ein Squaredance. Meredith wollte etwas zu diesem Bild sagen, als Sadie ihr mit lauter, klagender Stimme zuvorkam.

»Ich weiß nicht, was Sie wollen, aber ich habe für die nächste Zeit genügend ärgerliche Besuche gehabt! Ich bin davon ganz krank geworden und kann sehr gut ohne die Fragen von Leuten leben, die zu ignorant sind, um es besser zu wissen!«

»Ich bin nicht gekommen, um Sie mit Fragen zu durchlöchern«, sagte Meredith, vielleicht nicht ganz der Wahrheit entsprechend.

»Ich bin gekommen, weil ich Sie um Rat bitten möchte, wenn man so will. Ich glaube, Sie können mir etwas erklären.« Wut leuchtete in Sadies dunklen Augen.

»Sie wollen meinen Rat, ja? Sie meinen Informationen. Nun, ich kann Ihnen keine Informationen über irgendjemanden oder irgendetwas geben, kapiert? Die Leute scheinen zu glauben, ich könnte jede unglückselige Geschichte erklären, die sich hier ereignet hat! Mir scheint, irgendjemand anderes war ziemlich freizügig mit Informationen, aber was für welchen! Lügen haben sie der Polizei erzählt, über mich! Und nicht nur der Polizei, auch den Zeitungen! Haben Sie gelesen, was in den Zeitungen stand? Das ist Verleumdung, ist das, und ich sollte diejenigen, die dahinter stecken, auf Schadensersatz verklagen!« Sie bedachte Meredith mit einem bedeutungsvollen Blick. Meredith hoffte, nicht schuldbewusst dreinzublicken, obwohl sie befürchtete, dass genau das der Fall war. Manchmal war es besser, wenn man einfach die Augen schloss und durchhielt.

»Man hat mir erzählt, die Einheimischen würden Sie für eine Hexe halten und dass es kein Geheimnis wäre. Sie haben nicht versucht, es zu verbergen. Ich war überrascht und habe es nicht glauben wollen. Ich gebe zu, dass ich es gegenüber Inspector Crane erwähnt habe. Das Thema kam beiläufig während einer Unterhaltung auf.« Sadie schnaufte.

»Mehr habe ich ihr nicht gesagt, weil ich nicht mehr weiß«, beendete Meredith ihre Erklärung. Nun ja, nicht ganz, dachte sie. Aber mehr werde ich auf keinen Fall zugeben. Sadie blickte sie besänftigt an, doch das Misstrauen war noch nicht verschwunden.

»Ich habe nicht behauptet, dass Sie es gewesen sind«, brummte sie missmutig.

»Aber irgendjemand hat schlimme Geschichten über mich verbreitet. Ritualmorde, stellen Sie sich das vor! Jede Menge abscheulicher Unsinn, verbreitet von Leuten, die den Unterschied zwischen der Alten Religion und Satanismus nicht kennen!« Ein zufriedenes Lächeln huschte bei diesen Worten über ihr Gesicht.

»Aber wir müssen uns seit Jahrhunderten gegen üble Nachreden und Lügen wehren, und es kommt nicht überraschend, dass ich ertragen muss, was andere vor mir ertragen haben.«

»Wer sind diese anderen?«, fragte Meredith. Sadie streckte eine fette Hand aus und bedeutete Meredith schweigend, sich zu setzen, während sie selbst ebenfalls Platz nahm. Zwischen den beiden Frauen stand ein niedriger Wohnzimmertisch mit den Überresten eines Imbisses. Eine Fünfminutenterrine und ein leerer Becher mit einem Teebeutel darin, moderner Abfall, der eigenartig unpassend zwischen all den anderen Relikten aussah. Vielleicht fühlte sich Sadie tatsächlich mitgenommen, nach einem schikanösen Verhör durch die Polizei, und es war nicht nett, sie jetzt zu quälen, doch Meredith verbannte diesen Gedanken rasch aus ihrem Kopf.

»Ja, ich bin eine Hexe«, sagte Sadie leise.

»Ich habe es nie abgestritten. Es ist doch ganz allein meine Sache! Ich bin keine Teufelsanbeterin, und das ist alles, was Sie von mir darüber erfahren werden.« Sie fügte nicht

»Basta!« hinzu, doch ihr Verhalten drückte es unübersehbar aus. Meredith überlegte, dass sie bereits in manch einer merkwürdigen Situation gewesen war, doch diese hier gehörte mit zu den merkwürdigsten. Sie saß in einem völlig normal aussehenden Wohnzimmer, wenn man von den Kunstgegenständen absah (oder was es auch immer war) und führte eine durch und durch surreale Unterhaltung mit einer Frau, die ohne Umschweife einräumte, eine Hexe zu sein. Es spielte keine Rolle, dass Meredith nicht einen Augenblick lang glaubte, Sadie könne übersinnliche Kräfte besitzen. Was die

»Alte Religion« anging, so hatte sie etwas mit Natur zu tun, ohne Zweifel – Sadie selbst glaubte eindeutig mit derartiger Inbrunst daran, dass man nicht einfach lächelnd über das Thema hinweggehen konnte. Die Alte Religion beherrschte Sadies Leben und dirigierte ihre Entscheidungen. Das bedeutete, dass man es, wenn man mit Sadie zu tun hatte, auch mit ihren Überzeugungen zu tun bekam, ob man nun wollte oder nicht, ganz gleich, wie exzentrisch sie einem erscheinen mochten. Sadie trug heute keine pinkfarbenen Schmetterlinge im Haar, das stattdessen mit einem samtgrünen Aliceband hinter dem Kopf zusammengebunden war. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet, und Meredith bemerkte, dass ihre Fingernägel äußerst gepflegt aussahen. Und dass es ihr offensichtlich auch sehr ernst damit gewesen war, als sie Meredith gesagt hatte, sie dächte nicht daran, ihr mehr über ihr Hexentum zu erzählen.

»Ich bin nicht gekommen, um Sie wegen irgendetwas zu beschuldigen, Mrs Warren, oder Ihnen einen Vorwurf zu machen«, versicherte Meredith ihr.

»Ganz gewiss nicht im Zusammenhang mit dem Mord an Ernie Berry.«

»Dafür bin ich Ihnen ausgesprochen dankbar.« Sadie öffnete den Mund, spuckte die Worte aus wie etwas Ungenießbares und schloss ihn wieder. Wenn Meredith weitere Informationen von ihr wollte, musste sie zuerst ihre Verteidigung überwinden. Die Frau war nicht nur wenig kooperativ, sondern gewillt, jeder Frage auszuweichen, und wenn es allein aus purer Lust daran geschah – immer vorausgesetzt natürlich, es gab keinen anderen, verborgenen Grund für ihr Verhalten … Falls Meredith Informationen wollte, musste sie Sadie überraschen. Sie legte das Bündel auf den Tisch. Sadies kieselsteinharte Augen wanderten von Merediths Gesicht zu dem Bündel.

»Warum haben Sie das hierher zu mir gebracht?« Sie sprach mit einem schwachen Akzent, wie Meredith zum ersten Mal bemerkte – vielleicht keltisch. Meredith hatte nicht daran gedacht, Sadie zu fragen, ob sie eine echte Einheimische von Parsloe St. John war.

»Sie wissen nicht, was es ist«, entgegnete Meredith. Sadie spielte schon wieder ihre Spielchen, doch diesmal war Meredith darauf gefasst und nicht gewillt, auf sie einzugehen. Sie versuchte durch die Art ihrer Frage zu suggerieren, dass sie wusste, was in dem Tuch war. Diesmal würde sie stärkere Geschütze auffahren müssen, um Meredith aus der Fassung zu bringen.

»Es ist etwas, das Ihnen Angst macht.« In den dunklen Augen war ein böses Glitzern.

»Ich denke, es sollte uns beiden Angst machen.« Merediths Antwort traf ins Schwarze. Sadie blinzelte überrascht. Die dicken Finger zuckten und verschränkten sich fester ineinander.

»Ich habe nicht den geringsten Anlass, mich zu ängstigen«, sagte Sadie und betrachtete ihre Besucherin geringschätzig.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich eine Anhängerin der Alten Religion bin. Wenn Sie das beunruhigt, dann ist das nicht meine Schuld und auch nicht, wie es heutzutage so schön heißt, mein Problem. Vielleicht ist es ein Problem für Sie und andere wie Sie, die nicht verstehen und sich nicht die Mühe machen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie bevorzugen populäre Mythen und die Vorstellungskraft von billigen Schreiberlingen. Suhlen Sie sich nur in Ihrer Ignoranz, es ist mir vollkommen gleichgültig.«

»Ich würde Sie gerne um etwas bitten«, sagte Meredith, indem sie den Vorwurf ignorierte und die Hand nach dem Bündel ausstreckte.

»Wenn Sie so freundlich wären …« Amüsiert registrierte sie, dass Sadies herablassendes, überlegenes Gehabe sie nicht vor Neugier und Erwartung schützte. Die Frau beugte sich angespannt vor. Ihr voluminöses Kleid aus einem braun melierten Stoff mit einem geometrischen Muster darauf, ganz ähnlich afrikanischen Kunstdrucken, die Meredith gesehen hatte, raschelte vernehmlich. Sie roch nach Salmiakpastillen.

»… einen Blick auf dies hier zu werfen?«, vollendete Meredith ihren angefangenen Satz.

»Vielleicht können Sie mir ja eine Erklärung dafür geben. Es dauert bestimmt nicht lange; ich werde Ihre kostbare Zeit nicht unnötig beanspruchen.« Meredith wickelte die Teigfiguren aus dem Tuch. Sadie atmete scharf ein. Der Zorn kehrte in ihre dunklen Augen zurück, und sie fixierte Meredith auf eine Weise, die ihr auf unbehagliche Weise das alte Sprichwort

»Wenn Blicke töten könnten …« in Erinnerung rief.

»Wer hat sie gemacht?«

»Das möchte ich lieber nicht sagen«, entgegnete Meredith und schüttelte den Kopf.

»Haben Sie solche Dinge schon einmal gesehen? Ich hatte gehofft, Sie würden mehr darüber wissen und könnten mir etwas sagen.«

»Hatten Sie das tatsächlich?« Sadie lehnte sich zurück und entspannte sich. Sie war für einen Moment außer sich vor Zorn gewesen, doch sie hatte sich wieder unter Kontrolle. Meredith beschlich das dumpfe Gefühl, dass sie irgendwie die Initiative verloren hatte.

»Und angenommen, ich weiß irgendetwas – oder hätte solche Dinge schon einmal gesehen –, warum sollte ich es Ihnen verraten?«

»Weil diese Figuren von jemandem gemacht wurden, der zugleich sehr unglücklich und sehr verwundbar ist. Jemandem, der dringend Hilfe benötigt.«

»Das scheint offensichtlich.« Sadie verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln, doch es war keines.

»Dieser Täter, wer er oder sie auch sein mag …« Sie zögerte unmerklich, doch Meredith würde ihr nicht verraten, ob der Täter männlich oder weiblich war. Und Sadie sah in dem Schöpfer der Teigfiguren ganz offensichtlich einen Täter.

»Dieser Täter, der sich in fremde Dinge einmischt«, Sadies Stimme wurde hart, »sollte lieber die Finger davon lassen.«

»Was ist der Zweck dieser Figuren?«, fragte Meredith unverblümt.

»Das kommt darauf an, wer sie gemacht hat.« Sadie bewegte sich auf ihrem Sofa, und das geometrische Muster auf ihrem Kleid geriet ins Wackeln.

»Aber ich kann erkennen, dass, wer auch immer sie erschaffen hat, so unwissend ist, dass diese Figuren zu überhaupt nichts zu gebrauchen sind.«

»Und woher hat der Schöpfer die Idee dazu?« Diesmal lachte Sadie laut auf, ein eigenartig helles Geräusch.

»Woher? Aus dem Fernsehen? Filmen? Der Sensationspresse, die ich vorhin erwähnt habe? Geschwätz? Aus bösartigen Verleumdungen? Ich nehme an, wer auch immer sie gemacht hat, wollte wahrscheinlich Nadeln in die Figuren stecken. Ich kann Ihnen verraten, es wäre Zeitverschwendung, weiter nichts. Das dort ist ein Kinderspiel.«

»Ich verstehe.« Meredith war nicht sicher, was sie von Sadie zu hören erwartet hatte, doch sie hatte eines erfahren. Kevin gehörte nicht zu Sadies Hexenzirkel. Er hatte davon gehört und gedacht, er würde einen Versuch auf eigene Faust unternehmen.

»Nun, ich danke Ihnen jedenfalls, Mrs Warren. Ich möchte Sie nicht länger aufhalten.« Meredith griff nach dem Tuch mit den Figuren darin, doch Sadie war schneller und schloss ihre pummeligen Finger über der Figur, die, wie Meredith erschrocken feststellte, sie selbst repräsentieren sollte.

»Diese Teigmännchen müssen zerstört werden!«

»Tut mir Leid, nein«, sagte Meredith.

»Ich muss sie zurückbringen. Alle, auch diese dort. Bitte.«

»Sie sind eine Beleidigung!« Sadies Stimme zitterte, und ihre Ruhe war plötzlich wie weggewischt.

»Da spielt jemand ein dummes Spiel, und er weiß nicht, was er tut! Er hat kein Recht dazu!«

»Ich werde die Botschaft weitergeben.« Meredith nahm die Teigfigur aus Sadies Griff. Der Kopf fiel herab. Die beiden Frauen starrten schweigend auf den Rumpf. Sadie gab ein leises Schnauben von sich, entweder aus Belustigung oder aus Häme – Meredith wusste es nicht zu sagen. Meredith sammelte die zerbrochene Teigfigur ein und wickelte sie zusammen mit den anderen in das Stofftuch ein.

»Dürfte ja wohl nicht weiter schlimm sein, wenn Sie sagen, dass sie keine Macht besitzen«, sagte sie mit erzwungener Zuversicht.

»Sie besitzen keine Macht!« Die Schlussfolgerung war offensichtlich, doch Meredith ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Es hatte einen Augenblick gegeben, wo sie sich vor Sadie gefürchtet hatte, doch nun wusste sie ganz sicher, dass sie es nur mit einer exzentrischen Frau zu tun hatte, weiter nichts.

»Ich werde mich mit der betreffenden Person unterhalten«, sagte sie.

»Ich persönlich glaube ebenfalls, dass diese Aktivitäten nicht besonders gesund sind – wenngleich aus anderen Gründen, als Sie dies vielleicht tun. Machen Sie sich keine Sorgen, sie werden zerstört werden.« Meredith erhob sich und ging zur Tür. Mit einer Geschwindigkeit und einem Geschick, das Meredith ihr nicht zugetraut hätte, sprang Sadie auf und war vor Meredith dort. Sie blockierte ihren Weg.

»Sie müssen mir verraten, wer diese Figuren gemacht hat!« Meredith schüttelte den Kopf.

»Das werde ich nicht. Ich weiß, ich habe Sie damit belästigt und Sie sind wahrscheinlich der Meinung, Sie hätten ein Recht darauf, es zu erfahren, aber glauben Sie mir, es wird nicht wieder geschehen.«

»Sie sollten nichts versprechen, was Sie nicht ganz sicher halten können«, erwiderte Sadie leise. Sie deutete auf das Bündel.

»Sagen sie ihm oder ihr, wer auch immer es sein mag, dass das dort aufhören muss. Es ist vollkommen nutzlos, solange man nicht versteht, wie … Sagen Sie dieser Person, dass sie etwas Unrechtes tut.« Sie trat zur Seite und gestattete Meredith zu gehen. Sehr zu Merediths Erleichterung, wie sie sich selbst nur ungern eingestand. Die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Als Meredith auf die Straße trat und Sadie die Tür hinter ihr schloss, sagte die Frau:

»Es macht keinen Unterschied, ob Sie es mir verraten oder nicht. Ich werde es so oder so herausfinden.« Die Tür fiel krachend zu, das Glas zitterte, und das kleine Geschlossen-Schild tanzte an seiner Schnur. Durchaus möglich, dass sie es tatsächlich herausfand, dachte Meredith unruhig. Wenn Sadie darüber nachdachte und beispielsweise wusste, dass Meredith und Wynne den jungen Kevin Berry besucht hatten, konnte sie sich den Rest ohne weiteres denken. Wie um Merediths Sorgen zu vervollständigen, erhob sich eine schwarze Krähe, die auf dem Dach von WIR-HABENALLES gesessen hatte, flatternd von ihrem Platz und schoss so dicht an Meredith vorbei durch die schmale Gasse, dass Meredith den Luftzug spüren konnte.

Alans Wagen stand nicht vor dem Cottage, und Meredith nahm an, dass er noch nicht von seinem Besuch bei den Newtons zurückgekehrt war. Meredith betrachtete das Bündel mit den Teigfiguren in der Hand und zögerte. Sie hatte Sadie versprochen, dass diese Figuren zerstört und keine neuen angefertigt werden würden – ein dummes Versprechen, wie Sadie ihr deutlich gemacht hatte. Das Zerstören war nicht schwierig: Meredith musste das Bündel nur fallen lassen, und die Figuren würden zerspringen.

Es wäre eine selbstherrliche Vorgehensweise. Kevin hatte die Figuren erschaffen. Sie sollte Kevin dazu bringen, dass er selbst sie zerstörte und ihm das Versprechen abringen, keine neuen zu erschaffen und diese Experimente einzustellen.

Was bedeutete, dass Meredith zu Kevins Cottage zurückkehren musste. Sie verspürte keine Lust, dies alleine zu tun. Meredith ging zu Wynnes Tür und klopfte an. Niemand antwortete. Meredith ging zur Seite des Hauses, und Wynnes Wagen fehlte. Nimrod saß allein auf der Fensterbank und wartete darauf, dass man ihm das Fenster öffnete und er auf seinen Lieblingsplatz hinter der Scheibe konnte. Er miaute sie ärgerlich an.

»Tut mir Leid, mein Freund«, sagte Meredith zu ihm.

»Ich kann dir nicht helfen. Mehr noch, ich schulde dir überhaupt nichts!«

Nimrod bedachte sie mit einem Blick, als wollte er sagen, dass er nichts anderes erwartet hatte. Sie war kein nützliches menschliches Wesen.

Meredith blieb nichts anderes übrig, als sich alleine auf den Weg zu machen. Nun, sie war Sadie in ihrem Bau gegenübergetreten. Kevin sollte da kein Problem mehr darstellen.

Er stellte tatsächlich kein Problem dar, denn er war nicht zu Hause. Die Tür seines Cottages war fest verschlossen, und niemand öffnete ihr, obwohl sie wiederholt und energisch gegen die massiven Eichenplanken hämmerte, was nichts als ein leeres Echo hervorrief. Meredith umrundete das Haus und spähte durch die schmutzigen Scheiben. Vielleicht versteckte sich Kevin im ersten Stock, doch sie spürte, dass er tatsächlich wieder weg war. Wieder war genau der richtige Ausdruck – er war in der Zwischenzeit zu Hause gewesen. Die Tür, die sie beim Weggehen offen gelassen hatte, war nun zugesperrt, und das war bestimmt nicht der Wind gewesen. Das Fenster in der Dachgaube, das bei Merediths erstem Besuch weit offen gestanden hatte, war nun ebenfalls geschlossen.

Meredith stand mit dem Bündel Teigfiguren in der Hand da und hatte keine Ahnung, was sie nun damit anfangen sollte. Sie konnte sie zurücklassen, beispielsweise auf der Fensterbank. Sie legte das Bündel hin, dann nahm sie es wieder an sich. Die Hühner konnten auf das Sims flattern und den Teig entdecken, und dann würden sie ihn aufgefressen haben, bevor Kevin zurück war. Sie konnte das Bündel wieder mitnehmen und warten, bis Alan zurück war, um es ihm zu zeigen und dann mit Alan zusammen zu Kevin gehen.

Sie wandte sich schulterzuckend ab und machte sich auf den Rückweg. Der Feldweg, der zum Cottage der Berrys führte, war zu beiden Seiten von einer hohen Böschung gesäumt, dicht überwuchert von Brombeeren und anderen Kräutern. Auf einem kleinen Flecken wuchs Weizen, wahrscheinlich von den nahen Feldern oder ausgesät von Vögeln, und zwischen dem Weizen eine jener dunkelgrünen Pflanzen mit gelben Blüten, wie sie auf dem Hof der Berrys wucherten. Meredith hatte eine Idee. Sie blieb stehen und zupfte an der Pflanze. Sie war stark verwurzelt, doch der Stängel riss unter ihrem Griff. Sie blickte sich um, denn sie hatte die ganze Zeit über das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, und als sie niemanden sah, wandte sie sich schulterzuckend ab und marschierte weiter, die Pflanze sowie das Bündel Teigfiguren unter dem Arm.

Das Cottage war noch immer verlassen. Kein Wagen. Weder Alan noch Wynne waren zu Hause. Meredith betrat das Cottage durch die Vordertür und trug ihre Trophäen in die Küche, wo die vernagelte Hintertür sie an den ungebetenen Eindringling der vorgestrigen Nacht erinnerte. Sie schaltete den elektrischen Wasserkocher ein, und während das Wasser darin langsam heiß wurde, ging sie ins Wohnzimmer und trat zu dem massiven edwardianischen Bücherregal, wo sie eine Reihe von Büchern über die einheimische Tier- und Pflanzenwelt gesehen hatte. Sie fand das Bestimmungsbuch und trug es zurück in die Küche. Der elektrische Wasserkocher hatte sich unterdessen abgeschaltet. Meredith bereitete sich einen Becher Tee zu und setzte sich an den Küchentisch, um in dem Bestimmungsbuch zu blättern. Sie hatte die Pflanze neben sich liegen und verglich sie von Zeit zu Zeit prüfend mit einer Abbildung im Buch. Als sie zu drei Vierteln durch war, wurde sie endlich belohnt.

»Da ist es!«, murmelte sie. Tap-tap-tap. Meredith schrak zusammen. Jemand hatte an der Vordertür geklopft. Sie hatte weder Wynnes noch Alans Wagen gehört, und Alan besaß einen Schlüssel. Meredith stand auf und ging leise ins Wohnzimmer, um durch die Gardine nach draußen zu spähen. Vielleicht war einer der Zeitungsleute zurückgekehrt. Oder es war einer der Einheimischen. In diesem Dorf schien alles möglich.

Nun reiß dich aber zusammen! , schalt sie sich. Es war ganz bestimmt nicht der ungebetene Besucher. Er arbeitete nur nachts. Nichtsdestotrotz öffnete sie die Tür ganz vorsichtig. Draußen stand Inspector Crane.

»Tut mir Leid, aber Superintendent Markby ist noch nicht wieder zu Hause. Er ist weggefahren, um Sir Basil Newton zu besuchen.«

Meredith hatte noch mehr Wasser aufgesetzt und brühte einen Tee für ihre Besucherin auf, die ihr gegenüber am Küchentisch Platz genommen hatte.

Sie stellte genau wie Alan fest, dass Crane sich nach ihrer Ankunft in Parsloe St. John rasch an die Umstände auf dem Land angepasst hatte. Das modische Kostüm war einem robusten Strickpullover über einem karierten Rock gewichen, und ihre Haare wurden von einem Aliceband hinter dem Kopf gehalten, genau wie vorhin bei Sadie Warren. Der Vergleich amüsierte Meredith, doch sie wurde rasch wieder ernst. Trotz des Unbehagens, das die Vernehmungen durch die Polizei bei Sadie zweifelsohne hervorgerufen hatten, war ihr Amanda Cranes Haarschmuck nicht entgangen, und sie hatte die junge Inspektorin imitiert.

»Danke sehr.« Amanda Crane nahm den angebotenen Becher entgegen und spielte mit dem Bändchen.

»Ich bin eigentlich nur vorbeigekommen, um ihm – um Ihnen beiden mitzuteilen, dass wir die Tatwaffe gefunden haben. Das ist zumindest einer der Gründe meines Besuchs.«

Meredith bemerkte einen triumphierenden Unterton in ihrer Stimme. Sie gratulierte der Inspektorin.

»Ich dachte, es würde Sie interessieren. Das Messer war im Küchengarten von Rookery House versteckt, zwischen der Koppel und dem Haus. Das Labor hat die Blutflecken darauf analysiert, und sie stimmen mit dem Blut des Getöteten überein. Der Täter hat versucht, die Klinge abzuwischen, doch es ist nicht so einfach, Spuren zu beseitigen, wie manche Leute glauben!« Crane ließ sich zu einem knappen Lächeln hinreißen.

»Fingerabdrücke?«, fragte Meredith hoffnungsvoll. Sofort war Crane wieder angespannt. Sie schüttelte wortlos den Kopf und gestand zögernd:

»Nein, leider hatten wir kein Glück. Das Messer ist eines von diesen selbst gemachten Dingern, und der Griff war mit Schnur umwickelt. Wir waren nicht imstande, davon Fingerabdrücke zu nehmen. Trotzdem, es ist ein entscheidender Schritt nach vorn. Das Messer ist ein charakteristischer Gegenstand, und möglicherweise ist jemand aus dem Dorf in der Lage, es zu identifizieren.«

»Sogar sehr wahrscheinlich, würde ich sagen.« Andererseits war Meredith gar nicht sicher, ob einer der Dorfbewohner der Polizei die Information gab, falls er den Besitzer des Messers kannte. Crane sah Meredith verlegen an.

»Ich wollte mich außerdem nach Ihnen erkundigen. Ich meine, fragen, wie es Ihnen geht. Ich meine, Sie haben immerhin den Leichnam entdeckt.«

»Den größten Teil, würde ich sagen.« Meredith hatte es nicht vergessen. Galgenhumor half manchmal.

»Richtig. Sie standen offensichtlich noch unter Schock, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«

»Ich brauche jedenfalls keinen Therapeuten, danke.« Inspector Crane errötete.

»Nein, das sehe ich nun auch. Sie sind wahrscheinlich eher daran gewöhnt, anderen zu helfen, als selbst Hilfe zu empfangen. Doch das bedeutet nicht – hören Sie, wir alle brauchen von Zeit zu Zeit Hilfe. Ich werde es nicht wieder erwähnen. Falls Sie Ihre Meinung ändern, kann Superintendent Markby Ihnen sicher ebenso gut helfen wie ich, wenn nicht noch besser. Bitte verzeihen Sie.«

»Hören Sie«, sagte Meredith offen, »ich wollte nicht unhöflich sein. Ich war aufgebracht und wütend, als Sie beim letzten Mal hier waren. Das ist keine Entschuldigung.«

»Das sehe ich anders.« Amanda Crane entspannte sich sichtlich und lächelte Meredith an.

»Und glauben Sie mir, ich fand Sie nicht unhöflich. Ich bin an ganz andere Behandlung gewöhnt seitens Leuten, die ich als Zeugen oder Beschuldigte vernehme. Sie haben sich bemerkenswert gut geschlagen, und das meine ich ehrlich.« Meredith akzeptierte Cranes Worte, doch sie konnte nicht umhin zu denken – undankbarerweise –, was die junge Inspektorin denn sonst von ihr erwartet hatte. Etwa, dass Meredith sich auf dem Boden wälzte und heulte?

»Ich habe selbstverständlich die Zeitungsberichte gelesen«, sagte sie.

»Wer hat das nicht«, entgegnete Amanda Crane düster.

»Ist es nichts weiter als die ganz normale Hysterie der Regenbogenpresse, oder nehmen Sie die Idee ernst, es könnte sich um einen Ritualmord handeln?« Die Inspektorin trank von ihrem Tee und stellte den Becher auf den Tisch zurück.

»Angesichts der Folge von Ereignissen sind wir angehalten, die Möglichkeit eines Ritualmordes in Betracht zu ziehen. Sie und der Superintendent haben eine Art Hexensabbat bei den prähistorischen Steinen beobachtet, und am nächsten Tag wurde Ernie Berry gefunden, enthauptet. Andererseits weist nichts darauf hin, dass Berry irgendwelche direkten Verbindungen zu dem vermeintlichen Hexenzirkel besaß. Der Mann war Analphabet, ein Trinker und Schürzenjäger. Kein halbwegs vernünftiger Mensch würde ihm ein Geheimnis anvertraut haben. Nichts bringt ihn mit den Stehenden Steinen in Verbindung. Außerdem fanden wir dort draußen keinerlei Blutspuren.« Meredith zögerte.

»Es gibt ein Gehöft, ganz in der Nähe«, sagte sie schließlich.

»Die Lower Edge Farm. Die Bewohner dort müssen etwas wissen. Wynne und ich waren dort, doch der Farmer war unfreundlich, und unsere Fragen haben ihn definitiv nervös gemacht.«

»Ich war ebenfalls dort. Es ist das nächstgelegene Anwesen, und ich bin genau der gleichen Meinung wie Sie – falls es bei den Stehenden Steinen zu regelmäßigen Zusammenkünften kommt, muss der Farmer etwas davon wissen, selbst dann, wenn er nicht selbst daran teilnimmt. Der Farmer, sein Name lautet übrigens Cleggs, hat auf meine Fragen hin schließlich eingeräumt, dass er ›Besucher, die spät am Abend kommen‹, wie er sie beschreibt, auf seinem Hof parken lässt. Aus Sicherheitsgründen, sagt er. Er hat angeblich nichts mit den Vorgängen zu schaffen. Er kassiert einen Fünfer für jeden Wagen. Das macht in etwa sechzig Pfund pro Abend, und das ist kein schlechter Zusatzverdienst, steuerfrei. Er kennt keine Namen und hat keine Nummernschilder aufgeschrieben.«

»Ich – das heißt, Mrs Carter und ich, wir dachten uns, dass sie dort parken müssten.«

»Wir haben uns gründlich auf dem Gehöft umgesehen«, fuhr Crane fort.

»Wir haben keine Hinweise gefunden, dass Berry dort gewesen sein könnte oder dass irgendetwas Ungesetzliches stattgefunden hätte. Wenn wir Berrys Freundin ausfindig machen könnten, würde das natürlich unser Problem lösen, und wir könnten diesen Hexenzirkel aus unseren Untersuchungen streichen. Ich war in dem Laden hier im Dorf und habe diese Mrs Warren besucht. Das war vielleicht ein Empfang, kann ich Ihnen sagen!« Crane verzog das Gesicht.

»Sie hat das ganze Programm abgespult. Schreiende Empörung, eiserne Abweisung geheimnisvolle Anspielungen auf Dinge, die man besser nicht hinterfragt, und Fragen, die man besser unbeantwortet lässt. Ganz unter uns, ich dürfte eigentlich gar nicht mit Ihnen darüber sprechen …«, fügte Amanda Crane hastig hinzu, »… doch am Ende hat Sadie Warren eingeräumt, dass sie eine Hexe ist – zumindest behauptet sie das von sich. Ich nehme an, wenn man sagt, dass man eine Hexe ist dann ist man eine.« Crane grinste trocken.

»Ich erhielt einen langen Vortrag über die Alte Religion. Sadie Warren stritt entschieden ab, irgendetwas Ungesetzliches zu praktizieren, und sie sagt, es sei nicht Bestandteil ihres Glaubens, Tiere oder Menschen rituell zu töten. Sie wusste angeblich nichts von anderen Anhängern ihres Glaubens in der Gegend. Bis jetzt habe ich keine Handhabe gegen sie, und ich sage Ihnen freimütig, ich bezweifelte stark, dass Ernie Berrys Ermordung auch nur das Geringste mit dem ganzen Firlefanz zu tun hat! Wenn der Mann ein Schürzenjäger war, dann setze ich mein Geld auf einen eifersüchtigen Ehemann, ganz gleich, wie unwahrscheinlich das Ihnen oder mir im Augenblick erscheinen mag!«

»Ich war heute Nachmittag ebenfalls bei Mrs Warren«, gestand Meredith. Amanda Crane setzte sich so ruckartig auf, dass ihre Tasse auf dem Unterteller klapperte.

»Ich hoffe doch, Sie haben nichts getan, was meine Ermittlungen schwieriger macht! Das ist eine Polizeiangelegenheit, und eine sehr ernste noch dazu! Es geht um Mord! Ich muss Sie wirklich bitten, sich von allen Personen fern zu halten, die möglicherweise über wichtige Informationen verfügen!«

»Ich habe nicht über Ernie Berry mit ihr gesprochen«, sagte Meredith.

»Ich wollte ihr etwas zeigen – und ich denke, ich zeige es besser auch Ihnen.«

»Nun«, sagte Amanda Crane wenig später, nachdem sie die Sammlung aus Hefemännchen untersucht hatte.

»Es sieht ganz danach aus, als müsste ich doch die Sozialfürsorge einschalten, damit sie sich um Kevin Berry kümmert. Diese Geschichte klingt, als hätte er den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Vielleicht der Schock wegen des grausamen Todes, den sein Vater gestorben ist? Panik, weil er plötzlich ganz allein auf der Welt ist? Die Leute tun alle möglichen eigenartigen Dinge, wenn sie einen geliebten Menschen verlieren – aber das ist bestimmt mit das Merkwürdigste, das ich bis jetzt erlebt habe.« Sie berührte die zerbrochene Figur mit der Spitze eines Fingernagels.

»Tut mir Leid, dass Ihre den Kopf verloren hat – falls Sie Recht haben und diese Figur Sie darstellen soll.«

»Das soll sie – und die Übrigen kann ich mir ebenfalls denken. Die Frage, die sich mir aufdrängt, ist die nach dem Warum? Was hat er nur gegen uns alle?« Amanda Crane strich sich mit der Hand über die makellose Frisur.

»Genauer gesagt, haben Sie eine Idee, was er oder irgendjemand anderes gegen Sie im Besonderen haben könnte? Ich meine, Sie und der Superintendent scheinen jemanden im Dorf gegen sich aufgebracht zu haben. Vermutlich, doch das ist im Augenblick nur eine Theorie, vermutlich die gleiche Person, die in der Nacht von Samstag auf Sonntag in Ihr Cottage eingebrochen ist und das Erdgeschoss verwüstet hat. Vermutlich auch die gleiche Person, die den Anschlag gegen den Wagen des Tierarztes durchgeführt hat. Armitage und die anderen Leute wohnen ständig hier in Parsloe St. John. Sie und der Superintendent sind nur zu Besuch. Warum also ausgerechnet Sie? Haben Sie sich in der kurzen Zeit hier Feinde gemacht?«

»Ich denke«, sagte Meredith langsam, »man hat uns verdammt, weil wir mit jemandem in Verbindung stehen. Es geht nicht darum, was wir getan haben, sondern darum, dass wir auf der Seite von jemandem stehen, den der Übeltäter hasst. Das macht uns zu einem der anderen. Er hasst diese Seite, und wir mögen sie. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Eine ganz normale Verhaltensweise für einen zornigen, verwirrten Verstand.« Amanda Crane dachte über Merediths Worte nach.

»Ihre Worte klingen ganz so«, sagte sie schließlich, »als wüssten Sie, wer der Vandale ist.«

»Ich denke, das wissen Sie ebenfalls. Oder wenigstens können Sie sich genauso viel denken wie ich. Wir haben uns bereits über ihn unterhalten.« Crane schwieg, und Meredith fuhr fort:

»Die verschiedenen Akte von Vandalismus und diese Puppen – zwischen ihnen besteht eine Verbindung. Als ich Kevin vor dem Hof des King’s Head getroffen habe und er zum ersten Mal gesagt hat, dass Ernie verschwunden ist, hatte er die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Später, als Wynne und ich ihn im Cottage besuchten, hielt er seine Hände ebenfalls versteckt, solange er konnte. Als er sie schließlich zum Essen benutzen musste, bemerkte ich, dass seine Fingerspitzen Blasen hatten – als hätte er sich verbrannt. Er sagte, es wäre an dem alten Herd passiert. Vielleicht hat er sich die Blasen aber auch durch den unachtsamen Umgang mit einer ätzenden Substanz zugezogen – beispielsweise Abbeizer?«

»Der Wagen des Tierarztes?«

»Richtig. Er wurde mit Abbeizer beschädigt, der so gut wie sicher vom Bauhof Max Crombies entwendet wurde. Crombies Hunde haben nicht angeschlagen, als dort eingebrochen wurde. Max war klar, dass das nur eines bedeuten konnte: Die Hunde kannten den Eindringling, und er schloss vorschnell, dass der Übeltäter jemand von seinen Leuten war, der ihm schon früher Ärger bereitet hatte. Doch die Berrys hatten immer wieder für Crombie gearbeitet, und die Hunde kannten Kevin ebenfalls.«

»Durchaus möglich.« Die Augen von Inspector Crane funkelten genauso hart, wie Meredith dies bei Sadie Warren beobachtet hatte.

»Noch eine Sache«, fuhr Meredith fort.

»Als Wynne und ich Kevin in seinem Cottage besucht haben, war er bei Wynnes Anblick zu Tode verängstigt. Er kennt Wynne gut, sie ist keine Fremde für ihn, und als wir ihm zuvor im Garten von Rookery House begegnet sind, hat er ständig sie angesehen, wenn er etwas gesagt hat. Er hatte keine Angst vor ihr. Er betrachtete sie als eine Art Autorität. In seinem Cottage jedoch hatte sich sein Verhalten völlig verändert. Er hatte nicht nur höllische Angst vor ihr, sondern schrie auch noch ›Ich war es nicht!‹. Ich dachte zu dem Zeitpunkt, er meinte den Mord an Ernie, weil die Polizei ihn deswegen vernommen hatte und er Angst verspürte, man könnte ihm die Schuld anhängen. Heute denke ich, er meinte das zerstörte Beet vor Wynnes Wohnzimmer. Er glaubte offensichtlich, dass sie es herausgefunden hatte und nun gekommen war, um ihn zur Rede zu stellen.« Crane trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch.

»Vielleicht. Aber wenn er geglaubt hat, durchschaut worden zu sein, warum kam er danach noch hierher und hat Ihr Haus verwüstet?«

»Weil Wynne ihn nicht zur Rede gestellt und er demzufolge erkannt hat, dass sie ihm nicht auf die Schliche gekommen war. Niemand wusste, dass er dahinter steckte. Ich hätte eigentlich sofort darauf kommen müssen, als ich das ungelenk hingekrakelte Wort an der Wand im Wohnzimmer sah. Es lag nicht daran, dass es dunkel war oder dass er es eilig hatte. Es lag daran, dass er kein geübter Schreiber ist und kaum lesen kann. Ernie war ein Analphabet. Kevin kann lesen und schreiben, allerdings nur mit Mühe.«

»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Inspector Crane langsam.

»Alles passt sehr gut zusammen. Doch wir haben noch keine Beweise. Ich brauche Beweise. Die Teigmännchen reichen nicht. Ich brauche Beweise dafür, dass Kevin Berry diese Dinge getan hat.« Meredith setzte zum coup de grâce an.

»Was halten Sie hiervon?« Sie drehte das aufgeschlagene Pflanzenbestimmungsbuch zu ihrer Besucherin herum, dann nahm sie die grüne Pflanze und legte sie auf die betreffende Seite.

»Das ist Oxforder Kreuzkraut. Die Pflanze, mit der Olivia Smeatons Pony vergiftet wurde. Sie ist in unserer Gegend nicht verbreitet, was den Tierarzt Rory Armitage hat stutzen lassen. Doch der Hof vor dem Cottage der Berrys und der Feldweg dorthin sind voll davon.« Denn Dinge, die lange genug aus den Gedanken eines Menschen oder seiner Sicht verschwunden bleiben, geraten nur allzu schnell in Vergessenheit … Sir John Maundeville

KAPITEL 20

»UND DAHER wer

den Sir Basil und ich morgen nach Keswick fahren, wo wir uns mit Lawrence Smeaton treffen«, berichtete Markby.

»Bitte entschuldige, wenn ich ohne dich fahre, aber es ist Sir Basils Show. Es wird eine weite Fahrt, und ich weiß nicht, wie lange wir bei den Smeatons bleiben werden. Falls es zu spät wird, suchen wir uns ein Hotel Garni und fahren erst am nächsten Morgen zurück.«

Es war kurz nach sechs Uhr abends. Amanda Crane war gegangen, bevor Markby zurückgekehrt war. Sie hatte die Teigfiguren mitgenommen. Meredith sah zum Fenster hinaus. Am Abendhimmel zeigten sich aufziehende Wolken, die von herannahendem Regen kündeten. Sie drückte ihre Bedenken wegen des Wetters aus.

»Es ist alles verabredet; ich kann jetzt nicht mehr zurück. Moira hat gefragt, ob du nicht Lust hast mitzukommen und über Mittag zum Essen bei ihr zu bleiben. Wir dachten, da wir beide nur mit einem Wagen hier sind und du bestimmt nicht in diesem Dorf feststecken möchtest, bis ich zurückkomme, könntest du mich morgen früh zu Sir Basil fahren. Basil und ich fahren dann in seinem Wagen weiter, und du kannst hierher zurückfahren, wann immer du möchtest.«

»Einverstanden«, sagte Meredith.

»Das ist sehr freundlich von Moira.« Alan hatte unterdessen den geplünderten Kühlschrank geöffnet und spähte ohne Optimismus hinein.

»Gehen wir heute Abend im King’s Head essen?« Meredith zögerte.

»Ich müsste eigentlich zuerst noch einmal zum Cottage der Berrys, um nachzusehen, ob Kevin zu Hause ist, und ihm zu sagen, dass ich seine Backerzeugnisse Inspector Crane übergeben habe.«

»Falls du Recht hast mit deiner Vermutung, dass Kevin der Vandale ist, dann würde ich mich genauso gerne mit ihm unterhalten wie du …«

»Du darfst ihm nicht noch mehr Angst machen, Alan! Er ist bereits völlig außer sich.«

»Warte doch, lass mich ausreden. Ich meine, es wäre besser, die Sache Crane zu überlassen. Und falls du Angst hast, ihn zu erschrecken … die Nachricht, dass Crane jetzt seine Teigmännchen hat, wird ihn komplett in Panik versetzen und jeden Versuch Cranes zunichte machen, ihn zu einer Aussage zu bewegen. Dass Crane die Männchen hat, ist ihr Ass im Ärmel. Alles in allem können wir den unglückseligen Jungen einstweilen ruhig in Ungewissheit lassen.«

»Du erweckst in mir Schuldgefühle«, murmelte sie frustriert.

»Weswegen?« Er nahm ein Stück in Frischhaltefolie eingewickelten Käse aus dem Kühlschrank und betrachtete es nachdenklich, während er überlegte, ob es sich als Hauptzutat für eine Mahlzeit verwenden ließ.

»Weil du Crane die Teigmännchen gegeben hast? Oder weil du ihr von dem Kreuzkraut erzählt hast? Was hättest du denn anderes tun sollen? Du musstest es ihr sagen, sonst hättest du wichtige Informationen zurückgehalten. Wenn du es ihr nicht bereits gesagt hättest, würde ich es getan haben.«

»Ich wünschte, du hättest es getan! Dann würde ich mich nicht so schlecht fühlen! Im Übrigen«, fügte Meredith hinzu, »ist Amanda Crane heilfroh, dass sie endlich die Mordwaffe gefunden haben. Sie hat förmlich gestrahlt, als sie es mir erzählt hat. Sie wollte es dir sagen. Sie war ganz enttäuscht, dass du nicht zu Hause warst.«

»Du hast es mir gesagt.«

»Ich meine, sie wollte es dir persönlich sagen. Sie wollte sich in deinem Wohlwollen suhlen.« Er legte den Käse zurück in den Kühlschrank.

»Sie braucht mein Wohlwollen nicht. Wenn sie irgendjemandes Wohlwollen braucht, dann das ihres Vorgesetzten, wer auch immer das ist.« Für Merediths Geschmack klang seine Antwort gereizt, und sie wechselte das Thema.

»Ich denke, ich sollte trotzdem noch einmal zum Cottage der Berrys gehen. Kevin ist wie ein Verrückter davongerannt, und er ist in einem sehr eigenartigen Gemütszustand.«

»Der meiner Meinung nach ein permanenter ist«, murmelte Markby. Meredith sagte ihm, wie gefühllos sie seine Bemerkung empfand, und da Wynne in der Zwischenzeit ebenfalls nach Hause zurückgekehrt war, würde sie eben ihre Nachbarin fragen, ob sie Lust hätte, mit ihr zum Cottage der Berrys zu spazieren. Markby warf die Kühl Schranktür zu und richtete sich seufzend auf.

»Wir haben nichts zu essen, jedenfalls nichts, das der Rede wert wäre, es sei denn, du möchtest Bohnen zum Abendessen. Wir können kurz bei Berry vorbeischauen, wenn es das ist, was du möchtest, einverstanden? Aber sag nichts über Crane, ja? Und danach gehen wir im King’s Head essen. Pollard verdient sich wahrscheinlich dumm und dämlich. Er hat das uneingeschränkte Monopol, wenn es um Speiserestaurants in diesem Dorf geht.« Da er keine Antwort erhielt, drehte er sich zu ihr um. Sie stand an den Türrahmen gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, ein Bein vor das andere geschlagen, und hatte die Ärmel ihres Pullovers bis zu den Ellbogen hochgeschoben. In ihren braunen Augen stand ein kampflustiges Glitzern. Er kannte diesen Blick nur zu gut.

»Kann es sein«, fragte sie, »dass du dich nicht ganz wohl fühlst?«

»Nein!«, protestierte er entrüstet.

»Ich habe nicht die geringste Lust, mit dir irgendwo essen zu gehen, wenn du nur rumsitzt wie ein Bär mit einem Brummschädel. Liegt es vielleicht an der Aussicht, dass du zusammen mit Sir Basil nach Cumbria fahren willst? Oder Lawrence Smeaton sprechen wirst? Ich an deiner Stelle könnte es kaum erwarten, ein paar Worte mit dem alten Burschen zu wechseln!«

»Nun, du bist nicht an meiner Stelle«, entgegnete Markby.

»Tut mir Leid, wenn ich ein wenig gereizt geklungen habe. Ich wollte es nicht an dir auslassen. Hör zu, Meredith, du kennst das Sprichwort, keine schlafenden Hunde wecken, oder? Ich habe den starken Verdacht, dass Wynne genau das getan hat, als sie damit anfing, Olivia Smeatons Lebenslauf zu aktualisieren. Sie hätte nichts weiter tun müssen, als einen kurzen Absatz an das Ende des existierenden Papiers anzufügen. Ein einziger Satz hätte gereicht. Irgendetwas in der Art von: ›Olivia Smeaton verbrachte die letzten Jahre ihres Lebens zurückgezogen in Parsloe St. John.‹ Wen interessiert das alles noch, nach so vielen Jahren? Wer hat Wynne gebeten, den Dingen auf den Grund zu gehen und in der Vergangenheit zu stochern? Warum musste sie unbedingt Steine umdrehen und all die kleinen Tierchen aufscheuchen, die es sich darunter gemütlich gemacht hatten? Warum musste sie mich unbedingt mit hineinziehen, oder Sir Basil …? Und wozu das alles? Um herauszufinden, dass wir ein ziemlich großes Tier aufgescheucht haben, darum! Und sein Name lautet Lawrence Smeaton. Ich freue mich ganz bestimmt nicht darauf, ihn zu treffen! Im Gegenteil, ich habe die allerstärksten Bedenken!« Wehmütig fügte er hinzu:

»Und außerdem bin ich im Urlaub!« Ihr dunkler Haarschopf bebte vor Emotionen.

»Willst du denn nicht wissen, wie sie gestorben ist?«

»Ich weiß, wie Olivia Smeaton gestorben ist.«

»Du gibst dich also mit dem zufrieden, was die Gerichtsverhandlung zu Tage gefördert hat? Selbst nach all den anderen merkwürdigen Dingen, die sich in diesem Dorf zugetragen haben?« Markby ging zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Ich habe gesagt, ich weiß, wie Olivia Smeaton gestorben ist. Ich glaube, in diesem Fall sollten sowohl die Lebenden als auch die Toten in Frieden gelassen werden. Fragen zu stellen und alte Erinnerungen zu wecken, Dinge, die möglicherweise bereits lange vergessen waren, kann nur denen schaden, die noch am Leben sind, und es macht die Toten nicht wieder lebendig. Wir vergessen Dinge nicht einfach, weil wir alt werden. Wir tun es, um uns selbst zu schützen. Frag einen Arzt. Frag irgendjemanden, der schon einmal mit einem Posttrauma zu tun hatte. Nach dem morgigen Tag ist es für niemanden von uns möglich, genauso friedlich zu schlafen wie vorher. Belassen wir es dabei, ja?« Er küsste sie leicht auf den Mund.

»Woher hast du diesen merkwürdigen Pullover?« Sie streckte die Arme nach vorn und betrachtete den Pullover. Er war dunkelblau und hatte ein Strickmotiv, das drei Schweine zeigte.

»Von einem Schlussverkauf.«

»Hast du dich nie gefragt, warum niemand anderes ihn gekauft hat?«

»Jetzt gehe ich ganz bestimmt nicht mehr mit dir essen!«

»Doch, das wirst du. Wir gehen gleich los. Komm schon – wir schauen vorher bei Kevin Berry vorbei. Und danach werden wir den ganzen Abend nicht mehr über die Berrys oder die Smeatons oder sonst irgendetwas auch nur entfernt Mörderisches reden!«

»Auch nicht über meinen schlimmen Pullover?«

»Du würdest wahrscheinlich noch in einem Kartoffelsack wundervoll aussehen«, entgegnete er galant. Sie schnitt eine Grimasse und grinste.

Das Cottage der Berrys war genauso versperrt wie am Nachmittag und nirgendwo ein Lebenszeichen von Kevin zu erhalten. Sie umrundeten das Haus, während Markby sich über den Zustand des Hofs ausließ und wenig schmeichelhafte Bemerkungen über den verstorbenen Ernie und seinen Sohn von sich gab.

»Sieh dir diesen Haufen Abfall an! Nicht nur Schrottautos, sondern alte Mangeln, zwei alte Kinderwagen – die, wie ich im Übrigen von meiner Schwester weiß, inzwischen heiß begehrt sind! –, ein Einkaufswagen von einem Supermarkt und ein …«

Er bückte sich und zog ein großes Steuerruder aus dem Gras.

»Ich wusste gar nicht, dass Ernie zur See gefahren ist? Das hier lässt sich ganz bestimmt zu einem hübschen Preis verkaufen!« Er untersuchte das Ruder.

»Ein richtiger Schrotthaufen, aber Ernie scheint das Zeug nur gehortet und nicht damit gehandelt zu haben.«

»Ich wollte Kevin vorschlagen, einen Teil davon zu verkaufen.« Markby grunzte.

»Es ist ganz richtig, so zu denken. Kevin sollte sich einen anständigen Händler holen, und wenn es nur dem Zweck dient, diesen ganzen Mist wegzuschaffen! Allerdings könnte ich mir denken, dass es einiges wert ist. Ich werde mit Wynne reden. Leinen los, Matrosen!« Er warf das Ruder zurück ins Gras.

»Du solltest erst mal das Innere des Hauses sehen«, sagte Meredith zu ihm.

»Es ist voll gestellt bis unter die Decke mit allem möglichen Zeugs, und alles heruntergekommen. Ernie muss alles nach Hause geschleppt haben, was ihm in die Finger kam, wie eine durchgedrehte Elster. Dieses Cottage kommt einem vor wie der Bau eines Tiers, nicht wie eine menschliche Behausung, obwohl man es sich dort bestimmt sehr gemütlich machen könnte. Ich schätze, Ernie hat irgendwann mal einen Versuch unternommen, das Haus zu renovieren. Er hat ein paar Wände rausgeschlagen und dann wieder aufgehört. Er hat ein paar schöne alte Möbelstücke, aber sie sind total verdreckt, genau wie alles andere. Überrascht mich gar nicht, dass keine seiner Freundinnen länger bei ihm bleiben wollte. Aber wenn man sich ein wenig Mühe gibt, kann man durchaus etwas aus dem Haus machen.«

»Wenn man bereit ist, überdies ein kleines Vermögen auszugeben, meinst du wohl.« Sie beendeten ihre Runde um das Cottage. Markby runzelte die Stirn und starrte in den Himmel hinauf, wo sich dunkle Wolken zusammenzogen. Es würde bald regnen.

»Kevin kommt bestimmt zurück, sobald es dunkel wird.«

»Und wenn nicht? Er war sehr verängstigt. Wir sollten vielleicht Amanda Crane informieren.«

»Und was soll sie um diese Zeit noch unternehmen? Du oder Wynne könnt morgen noch mal nachsehen. Wenn dann immer noch keine Spur von ihm zu sehen ist, kannst du Crane informieren. Jetzt ist es noch zu früh für voreilige Schlüsse. Das Wetter schlägt um, und wenn schon nichts anderes, dann wird ihn der Regen ins Haus treiben. Er wartet wahrscheinlich irgendwo, bis es dunkel ist, um sicher zu sein, dass niemand mehr kommt und ihn überraschend besucht, wie du es getan hast.« Sie scharrte frustriert mit den Füßen im Dreck.

»Ich fühle mich verantwortlich.« Sie seufzte und schob sich eine Strähne aus der Stirn.

»Ich habe mich eingemischt, nicht wahr? Ich hätte tun sollen, was du gesagt hast – keine schlafenden Hunde aufwecken.«

»Komm schon.« Er schob seinen Arm unter ihrem hindurch und drückte sie an sich.

»Du hast doch nur versucht, dem Jungen zu helfen. Er kennt sich hier aus und weiß wahrscheinlich ein halbes Dutzend Stellen, wo er unterschlüpfen kann, wenn er vom Regen erwischt wird. Er ist ein Junge vom Land. Ihm wird schon nichts geschehen, keine Sorge.« Sie wandten sich ab und passierten auf dem Rückweg über den Hof den alten Einspänner. Plötzlich fiel Meredith etwas ein.

»Wynne hat den Wagen übrigens erkannt, es ist Olivia Smeatons alter Einspänner. Ich finde den Anblick in seinem jetzigen Zustand traurig. Ernie Berry war ein Scheusal, so viel steht fest!«

»Hast du dieses Kraut hier gefunden?« Markby bückte sich und riss ein Büschel aus.

»Ja, das ist es. Aber warum um alles in der Welt hat der unglückselige Junge das getan? Falls er es getan hat – und all die anderen Dinge. Ich halte es für sehr wahrscheinlich.«

»Ich habe meine Probe auf dem Feldweg gepflückt, ein Stück weiter in Richtung Dorf. Aber hier wächst überall mehr als genug davon.« Meredith zögerte.

»Es war eine niederträchtige Gemeinheit von ihm!«, sagte sie entschieden.

»Kevin ist krank, Alan. Er muss krank sein. Wir sollten versuchen, ihn zu finden.«

»Krank? Vielleicht, aber das muss nicht unbedingt so sein. Ich würde sagen, er hat eine gestörte Persönlichkeit und neigt zu boshaften und unangenehmen Handlungen.« Markby betrachtete das Kreuzkraut in seiner Hand. Er sagte nicht, dass Kevin nach seiner Erfahrung eine tickende Zeitbombe war. Er hatte bereits das Pony vergiftet, was weit über gewöhnlichen Vandalismus hinausging. Mit der Zeit würde er weitere kriminelle Handlungen begehen, beispielsweise Brandstiftung – und früher oder später noch schlimmere Dinge. Jeder, der mit jungen Gesetzesbrechern zu tun hatte, kannte dieses Schema nur zu gut. Markby warf die Pflanze achtlos zur Seite.

»Komm, gehen wir zu Mervyn und essen zu Abend.« Beim King’s Head angekommen, stellten sie fest, dass ihr Plan einen Haken hatte. Das Pub war gut besucht, und die abendliche Geschäftigkeit war im Gange. Stimmengewirr und Lachen drang durch die geschlossene Tür hindurch auf die Straße. In dem Augenblick jedoch, als Markby und Meredith die Tür öffneten und das Pub betraten, verstummte jegliche Unterhaltung. Gesichter wandten sich zu ihnen um und dann hastig wieder ab. Niemand sprach ein Wort. Die feindselige Atmosphäre war greifbar.

»U-oh …«, murmelte Meredith, und ihre Stimmung sank. Mervyn Pollard kam hinter dem Tresen hervor und rumpelte ihnen entgegen. Der Gastwirt blickte gleichzeitig verlegen und entschlossen drein.

»Guten Abend, Sir.« Er nickte Meredith zu.

»Guten Abend, Ma’am. Ich frage mich, Sir, ob Sie und Ihre Freundin … ob wir uns vielleicht auf ein Wort unterhalten könnten, draußen und unter vier Augen.« Sie folgten Pollard nach draußen. Ihnen entging nicht, dass die Unterhaltungen sofort wieder losgingen, nachdem die Tür hinter ihnen zugefallen war, doppelt so lebhaft wie zuvor.

»Also schön, Pollard, was hat das zu bedeuten?«, fragte Markby scharf. Mervyn scharrte verlegen mit dem Fuß und sah Markby an.

»Nun, Sir, ich weiß, Sie sind Polizeibeamter – ein hoher Beamter obendrein, wie ich gehört habe. Deswegen hoffe ich auch, dass Sie mich verstehen und es nicht in den falschen Hals kriegen. Ich schwöre, dass ich normalerweise niemanden bitte, woanders zu essen und zu trinken. Ich bin ein freundlicher Mann, und ich habe ein schlechtes Gefühl dabei. Außerdem ist das Geschäft nicht so gut, als dass ich mir leisten könnte, zahlende Kundschaft abzuweisen. Sie waren gute Kundschaft, solange Sie hier verkehrt haben, und ich weiß das zu schätzen. Aber das King’s Head ist wahrscheinlich nicht das, was Sie sonst gewöhnt sind. Ich denke, Sie wären viel zufriedener in einem schickeren Lokal als dem meinen.« Mervyn war unübersehbar ins Schwitzen geraten und hielt inne, um Atem zu schöpfen und die Reaktionen von Markby und Meredith zu beobachten.

»Wir haben Lokalverbot?«, rief Meredith ungläubig. Mervyn sah sie an, dann wandte er sich erneut an Markby und sprach weiter.

»Ich bin in einer schwierigen Lage, Sir, und ich hoffe sehr, dass Sie mir helfen. Die Sache ist die – die Emotionen schäumen zurzeit in unserer Gemeinde über. Ich sage nicht, dass der gute alte Ernie der beliebteste Mann in Parsloe St. John gewesen ist, aber er war einer von uns, und jeder kannte ihn. Er hat für die meisten von uns hin und wieder gearbeitet. Deswegen nehmen sie es persönlich, fast, als hätte er zur Familie gehört. Tatsache ist, wenn ich mich nicht irre, dass er ein Cousin zweiten Grades meiner Mutter war. Wir alle haben den ein oder anderen Verwandten, auf den wir nicht gerade stolz sind, nicht wahr? Trotzdem gehört er zur Familie, erst recht, wenn etwas schief geht.«

»Wir waren gestern in Ihrem Pub«, sagte Markby, »als Inspector Crane hereinkam. Zu dieser Zeit war keine offene Feindschaft zu spüren. Eher eine entspannte, fröhliche Atmosphäre, wenn ich mich recht entsinne. Ich sehe ein, dass die Zeitungsleute Ihnen allen arg zugesetzt haben, aber sie sind wieder weg.«

»Sie sind weg und haben eine Menge hässlicher Geschichten aufgeschrieben«, sagte Mervyn und verstummte. Markby und Meredith sahen ihn unverwandt an, und seine Unruhe wurde immer stärker.

»Sie haben die Zeitungen gelesen!«, sagte er.

»Wir alle haben sie gelesen! Das ganze Land hat sie gelesen! Diese Journalisten haben nicht alles erfunden! Irgendjemand muss ihnen erzählt haben, dass Ernie durch einen Ritualmord ums Leben gekommen ist. Niemand hier im Dorf glaubt diese Geschichte, und es gefällt uns überhaupt nicht, wenn solche Dinge in der Zeitung stehen und die ganze Nation sie lesen kann, als stünde es bereits fest! Die Leute wurden von der Polizei vernommen. Das mag für Sie nichts Besonderes sein, Sir, aber die Menschen in Parsloe St. John schämen sich dafür, und wir alle wollen, dass es aufhört. Sie würden mir einen großen Gefallen tun, Sir, wenn Sie das Ihren Freunden bei der Polizei sagen könnten. Ich wage zu sagen, dass es eine gute Story für die Zeitungen ist, aber wir müssen damit leben. Es tut mir Leid, Sir, aber Sie sind Polizist. Es versetzt mich in eine Zwickmühle. Ich möchte nicht, dass Sie oder Ihre Freundin unter meinem Dach beleidigt oder angegriffen werden. Einige meiner Gäste nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie wissen es nicht besser.« Nervös fügte er hinzu:

»Ich hoffe, dass ich keine Probleme mit der Erneuerung meiner Konzession wegen dieser Geschichte bekomme. Aber ich habe ein Recht zu entscheiden, wer mein Lokal betreten darf, und … nun ja, Sie sind nur zu Besuch hier und bald wieder weg. Die anderen dort drin sind meine Stammgäste. Mit ihnen verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Ich möchte nicht zusehen, wie sie alle nach Long Wickham fahren und dort ins Pub gehen. Nicht, dass das Wheatsheaf nicht das gleiche anständige Pint servieren würde wie ich, aber die Bürger von Parsloe St. John haben ihre Prinzipien.«

»Sagen Sie nichts mehr, Pollard«, unterbrach ihn Markby.

»Wir gehen woanders essen. Obwohl ich Wert auf die Feststellung lege, dass weder Miss Mitchell noch ich mit der Presse gesprochen haben. Haben Sie das verstanden?«

»Ah!«, sagte Mervyn sichtlich erleichtert. Doch die Anspannung kehrte fast im gleichen Augenblick wieder zurück.

»Ich möchte keine Anschuldigungen erheben, Sir. Es sind die anderen, da drin. Ich hoffe sehr, Sie sind mir deswegen nicht böse, Sir. Ich brauche meine Lizenz.«

»Lokalverbot im einzigen Pub des Dorfes!«, rief Markby aus, sobald der Wirt wieder in seinem Lokal verschwunden war.

»Ich hoffe, dass das nicht bis ins Bezirkspräsidium vordringt, sonst kriege ich das zu hören, bis ich in den Ruhestand gehe!«

»Ich schätze, das war mein Fehler«, bekannte Meredith reumütig.

»Ich habe Crane von Sadie Warren erzählt, und ich habe die Frau selbst besucht. Trotzdem! Es ist unfair, dass sie uns die Schuld geben für das, was in den Zeitungen stand!«

»Crane musste es erfahren. Auf der anderen Seite hatte ich sowieso die Nase allmählich voll von Pollards Speisekarte und der Gesellschaft der Dorfbewohner. Es gibt sicherlich ein Dutzend netter kleiner Lokale in fünfzehn Kilometern Umkreis. Lass uns zurückgehen und den Wagen nehmen.«

Sie fanden ein kleines, gemütliches Restaurant knappe zehn Kilometer hinter Parsloe St. John. Es lag an der Straße nach Long Wickham, wie ein Hinweisschild verriet.

»Ich bin fast geneigt, in das Wheatsheaf zu gehen, nur um es Pollard zu zeigen!« Markby grinste.

»Aber ich denke, wir bleiben besser hier.«

»Janine Catto kommt übrigens aus Long Wickham«, sagte

Meredith.

»Dann wird man uns dort wahrscheinlich ebenfalls die Tür weisen. Warum ist Janine nach Parsloe St. John gezogen?«

»Bessere Wohnqualität.« Markby schnitt eine Grimasse.

»Ehrlich!« Meredith fand sich plötzlich in der Rolle der Verteidigerin von Parsloe St. John wieder.

»In Parsloe St. John gibt es eine Schule für die beiden Jungen, Bruce und Ricky. Weißt du, einen schrecklichen Augenblick lang habe ich geglaubt, sie könnten Ernies Kinder sein, angesichts dessen, was Paul erzählt hat. Aber ihr Vater scheint eine der vielen flüchtigen Männerbekanntschaften in Janines Leben zu sein. Einer von ihnen war bei ihr zu Hause und hat versucht, den Videorekorder zu stehlen. Sie hat ihn rausgeworfen.«

»Janine ist eine harte Nuss«, sagte Markby.

»Eine Matriarchin.«

»Er hat ihr ein blaues Auge geschlagen.«

»Hat irgendjemand gesehen, wie Janines Exfreund hinter her zugerichtet war? Bestimmt sah er nicht viel besser aus!«

»Das ist nicht witzig, Alan!«, tadelte sie ihn ärgerlich. Doch sie war nicht in der Stimmung zu streiten. Das Innere des Restaurants war beengt, doch gemütlich. Die Tische waren hübsch gedeckt mit gestärkten weißen Leinentischdecken, und die nackten Wände aus Feldstein waren glücklicherweise frei von Touristenschnickschnack. Keine alten Küchenutensilien und keine Memorabilien eines verloren gegangenen ländlichen Lebensgefühls. Das Essen war ebenfalls gut.

»Mervyn hat uns einen Gefallen getan!«, stellte Alan fest. Nach dem Essen entspannten sie sich bei einer Tasse Kaffee und lächelten sich über den Tisch hinweg an, wie es Menschen tun, die mit sich und der Welt im Reinen sind.

Der versprochene Regen kam über Nacht, und zur Frühstückszeit klatschten dicke Tropfen in stetigem Rhythmus gegen die Scheiben. Als sie in den Wagen stiegen und losfuhren, sahen sie Nimrod in Wynnes Wohnzimmerfenster sitzen, ein Gefangener des schlechten Wetters. Seine normalerweise freche Ausstrahlung verwandelte sich in glatte Arroganz, als er Markby und Meredith dort draußen im Nassen sah, während er geschützt im Warmen saß. Hinter ihm tauchte Wynne im Fenster auf und winkte ihnen zum Abschied.

Sir Basil erwartete sie bereits fertig angezogen und bereit für alles, was das Wetter ihm entgegenzuwerfen vermochte. Er trug einen Tweedanzug von altmodischem Schnitt, dazu einen womöglich noch älteren Regenmantel und einen Trilby. Moira packte Dosen mit Sandwiches und Thermoskannen in einen Picknickkorb.

»Entlang der Autobahn gibt es nur diese Schnellrestaurants. Basil hasst sie. Die Sitze stehen so dicht bei den Tischen, dass man nicht gemütlich sitzen kann, und das Essen schmeckt ihm nicht. Hamburger und all dieses Zeugs, das ist nicht sein Stil, und viel zu viele Menschen sehen ihm beim Essen auf den Mund.«

»Familien mit Kindern, die Spaghetti durch das ganze Lokal spritzen!«, sagte Moiras Ehemann mit einigem Nachdruck.

»Düster dreinblickende Geschäftsleute, die aussehen, als hätten sie Magengeschwüre …« Er stockte, dann brachte er das seiner Meinung nach gewichtigste Argument auf den Tisch:

»Alkoholfreies Lager …!«

Sie fuhren davon, und hinter ihnen wirbelte weiße Gischt auf.

»Es hätte kein schlimmerer Tag für eine so weite Fahrt sein können, nicht wahr?«, sagte Moira zu Meredith gewandt.

»Und das Wetter war die ganze Zeit so schön! Kommen Sie, wir gehen nach drinnen und trinken Kaffee, und dann müssen Sie mir erzählen, welche Fortschritte Sie bei Ihren Erkundungen in der Welt der Hexen gemacht haben …« Eine ganze Weile später, nachdem sie Kaffee getrunken hatten und Merediths Gastgeberin auf den neuesten Stand gebracht worden war, saßen sie schweigend vor dem offenen Feuer im Kamin. Die große Wanduhr in der Ecke tickte leise, das einzige Geräusch abgesehen vom ununterbrochenen Prasseln des Regens, der über die Fensterscheiben rann. Meredith verspürte das Bedürfnis, ihr Mitgefühl für die beiden Reisenden auszusprechen. Moira war mit den Gedanken woanders. Sie murmelte nur:

»Oh, ich schätze, sie fahren aus dem Regen heraus.« Sie beugte sich vor, nahm ein Holzscheit aus dem Korb und legte es auf das Feuer. Es knisterte, und ein paar Funken stoben auf, bevor es selbst zu brennen anfing.

»Ich nehme an«, sagte Moira, während sie sich aufrichtete und zu ihrem Platz zurückkehrte, »dass diese Sadie Warren niemandem schadet.«

»Das kommt darauf an«, entgegnete Meredith, »ob man den Einfluss, den sie auf den jungen Kevin Berry ausgeübt hat, als schädlich betrachtet oder nicht.«

»Aber sie hat es nicht darauf angelegt, ihn direkt zu beeinflussen, oder? Jedenfalls nicht, soweit wir wissen. Vielleicht stammt ja die Idee mit den Teigmännchen tatsächlich nicht von Sadie. Hat Kevin in seinem Cottage einen Fernseher?«

»Ja, hat er. Einen großen.«

»Da sehen Sie es. Er hat vielleicht einen Film gesehen, wo jemand Nadeln in eine Puppe gestochen hat. Spät in der Nacht zeigen sie wirklich merkwürdige Filme im Fernsehen.«

»Ich weiß nicht einmal, ob Sadie so etwas macht«, gestand Meredith.

»Sie nimmt ihre Alte Religion sehr ernst. Ich glaube, sie hat die Sache mit den Teigfiguren als beleidigend und frivol empfunden. Ja, so hat sie es genannt.«

»Ich habe meine Freundin gefragt, die sich ein wenig für die Geschichte der Gegend interessiert«, sagte Moira.

»Sie hat mir das hier ausgeliehen.« Sie beugte sich zur Seite, wo das Bücherregal stand, und zog ein altes, viel gelesenes Buch hervor.

»Es ist einer von jenen einheimischen Reiseführern, wie die Viktorianer sie geschrieben haben. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie von diesbezüglichen Informationen besessen waren. Darin finden Sie die genaue Einwohnerzahl jedes Weilers, die Höhe jedes Kirchturms und die Inschrift auf jedem bedeutenderen Grabstein. Aber diese alten Reiseführer waren sehr gut, was die lokale Geschichte angeht. Unglücklicherweise habe ich nicht herausfinden können, was nun wirklich mit dem dritten Stehenden Stein geschehen ist … dem Stein, der vom Feld zu einem Friedhof geschafft wurde und dann erneut woandershin musste.« Moira blätterte durch das Buch.

»Aber es gibt einen Verweis auf ihn und sogar eine Zeichnung – ah, da ist sie ja. Angefertigt von irgendeinem unermüdlichen Besucher im Jahre 1721, kurz bevor der damalige Pfarrer ihn von seinem Friedhof verbannte.« Sie reichte Meredith das aufgeschlagene Buch. Unter der Überschrift

»Alter behauener Stein, ehemals auf dem Friedhof von St. Nicholas-Below-Wold« war die Zeichnung abgebildet. Der dritte Stehende Stein sah im Wesentlichen ganz genauso aus wie die beiden anderen, mit dem Unterschied, dass er grob gemeißelte Gesichtszüge trug, Augen und einen Mund. Der Schreiber war der Auffassung, dass es sich um eine Fruchtbarkeitsgottheit gehandelt haben müsse, und die Hingabe, die ihr von den Gemeindemitgliedern während der Zeit auf dem Friedhof entgegengebracht wurde, stünde damit in Zusammenhang. Wie der Schreiber streng notierte, »›waren die Landfrauen begierig, den Stein zu berühren, und legten Blumen vor ihm nieder, weil sie in ihrer Einfachheit glaubten, dass dadurch ihr kinderloser Zustand ein Ende finden könnte‹«, las Meredith vor.

»Nicht weiter überraschend, dass der Pfarrer den Stein entfernen ließ«, sagte Moira.

»›Der gegenwärtige Aufenthaltsort dieses uralten Steins ist leider unbekannt‹, heißt es hier weiter. ›Doch es wird gemeinhin angenommen, dass er im Auftrag des zu jenem Zeitpunkt der Gemeinde vorstehenden Pfarrers, des Reverends J. S. Murgatroyd, in Stücke gebrochen worden ist, und zwar heimlich, sodass die Dorfbewohner keinen Einwand dagegen erheben konnten.‹« Meredith legte das Buch nieder und lächelte.

»Der Priester hat ihnen ihre einheimische Göttin weggenommen. Ich könnte mir vorstellen, dass er hernach ziemlich unbeliebt war.«

»Ich denke, er hat beträchtlichen Mut bewiesen«, sagte Moira.

»Er hat in Kauf genommen, von jeder kinderlosen Frau in der gesamten Umgebung geschmäht zu werden! Jeder Fall von Kinderlosigkeit in der Gemeinde, jedes Pech wäre ihm angelastet worden! Doch ich vermute, als christlicher Priester war er fest überzeugt, dass er etwas dagegen unternehmen musste.« Meredith lehnte sich in die Polster ihres bequemen Ohrensessels und beobachtete das Muster der Wassertropfen auf der Fensterscheibe.

»Wenn das Wetter so ist wie jetzt«, sagte sie, »dann versteht man irgendwie leichter, wie der alte Glaube überleben konnte. Vor den modernen Straßen muss dieser Teil der Welt förmlich abgeschnitten gewesen sein, ganz besonders im Winter, eine Landschaft aus geheimnisvollen kleinen Tälern und versteckten Weilern, umgeben von Schnee oder Schlamm. An Tagen wie diesem saßen die Landbewohner wahrscheinlich in ihren Hütten, kauerten sich um den Kamin und erzählten sich die alten Geschichten. Sie jagten sich gegenseitig eine Heidenangst ein mit ihren Märchen über Geister und Flüche und Gott weiß was sonst noch alles.« Eine Windbö ließ das Fenster klappern.

»Möchten Sie über Nacht hier bleiben?«, fragte Moira.

»Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass Sie alleine in diesem Cottage in Parsloe St. John übernachten – nicht nach den unangenehmen Vorfällen der letzten Zeit und mit diesem schrecklichen Jungen auf freiem Fuß.« Kevin lastete immer noch auf Merediths Gewissen. Sie hatte die ganze Sache falsch angegangen. Sie hätte die Teigfiguren nicht mitnehmen dürfen. Damit hatte sie den verängstigten Jungen nur in noch größere Panik versetzt. Meredith fragte sich, wo er jetzt sein mochte, und hoffte inständig, dass Alan Recht gehabt hatte und das schlechte Wetter ihn nach Einbruch der Dunkelheit in sein Cottage zurücktrieb.

»Mir wird nichts geschehen, keine Sorge. Außerdem, wenn ich nicht zurückfahre, ist Wynne ganz allein. Solange ich nebenan bin, können wir uns in einem Notfall gegenseitig helfen.«

»Überlegen Sie es sich beim Mittagessen.« Moira stand auf.

»Ich habe eine Kasserolle in den Ofen geschoben und denke, sie müsste jetzt fertig sein.« Diese hartnäckigen Verhöre … William Wordsworth

KAPITEL 21

WÄHREND MEREDITH und Moira behaglich im Wohnzimmer der Newtons zu Mittag aßen, saßen Markby und Sir Basil beengt und sehr ungemütlich auf einem Parkplatz im Wagen und kauten Sandwiches, während sie den Regen beobachteten, der über die Scheiben herablief.

»Wir haben uns nicht gerade den besten Tag für unsere Reise ausgesucht«, meinte Sir Basil düster. Er klappte sein Sandwich auf und musterte den Belag.

»Sie hat den Senf vergessen! Ich kann Schinken ohne Senf nicht ertragen!«

»Auf meinem ist Senf«, sagte Markby unvorsichtig.

Er erntete einen misstrauischen Blick von der Seite.

»Dann hat sie zwei verschiedene Sandwiches gemacht, eines mit und eines ohne Senf. Sie haben meins.«

Markby entschuldigte sich, obwohl er nicht wusste wofür. Es schien von ihm erwartet zu werden. Sein Begleiter akzeptierte die Entschuldigung großzügig und begann, eine Thermoskanne aufzuschrauben.

»Das ist Kaffee. Haben Sie in Ihrer Tee?« Markby überprüfte die zweite Kanne, stellte fest, dass sie Tee enthielt, und reichte sie schnell weiter, bevor sein Gegenüber eine Gelegenheit fand, ihm vorzuwerfen, dass er sich den Tee genauso unrechtmäßig unter den Nagel gerissen hätte wie das Schinken-Senf-Sandwich.

»Ich habe den guten alten Lawrence seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte Sir Basil. Nachdem er die Thermoskanne mit dem Tee sicher in Besitz genommen hatte, war er wieder imstande, seine Gedanken auf den Gegenstand ihrer Reise zu konzentrieren.

»Und ich habe den Verdacht, dass er, falls er überhaupt je etwas wusste, bestimmt alles längst vergessen hat.«

»Er kann uns zumindest verraten, ob er Erfolg damit hatte, sich nach dem fehlgeschlagenen Versuch, von dem wir wissen, noch einmal mit seiner Schwägerin in Verbindung zu setzen. Beispielsweise, ob er ihr noch einmal geschrieben hat. Oder Behrens, Olivias Anwalt. Warum wollte er Olivia nach all den Jahren und diesem bitteren Streit überhaupt wiedersehen?«

»Was die letzte Frage angeht, so wird er uns vielleicht keine Antwort darauf geben wollen«, warf Sir Basil ein.

»Ich kann es nicht ändern, aber ich habe das Gefühl, als steckten wir unsere Nasen in seine Angelegenheiten. Offen gestanden, dieses ganze Unternehmen ist mir recht peinlich.« Markby verzog das Gesicht.

»Das tut mir Leid. Ich hatte keine Ahnung, dass meine Nachforschungen uns so weit führen würden.«

»Oh, ich bin Ihnen deswegen nicht böse, mein lieber Freund. Ich war schließlich mehr als bereit, die Verabredung für Sie zu treffen und Ihnen zu helfen, und ich freue mich eigentlich sehr darauf, die beiden Smeatons wiederzusehen. Aber was geschieht, wenn er uns etwas erzählt, das die Gäule scheu macht, hm? Wollen wir das wirklich hören?«

»Wir mögen es vielleicht nicht hören wollen«, entgegnete Markby, als eine neuerliche Regenbö auf das Autodach prasselte.

»Aber wir werden es andererseits vielleicht nicht verhindern können.« Einige Minuten saßen sie schweigend nebeneinander, der eine mit seinem Tee, der andere mit Kaffee.

»Und was tun wir dann?«, fragte Sir Basil schließlich.

Sie erreichten ihr Ziel am frühen Abend. Der Regen hatte aufgehört, doch dichte Wolken hingen über den Bergen und verdeckten die Gipfel und die spektakuläre Landschaft. Die Reisenden waren von Nebel umhüllt. Schafe mit langen Schwänzen und schwarzen Gesichtern tauchten wie Gespenster daraus auf und verschwanden wieder mit der gleichen beunruhigenden Abruptheit. Derwentwater lag grau und missmutig in der umgebenden bleiernen Düsternis, und das gegenüberliegende Ufer war nicht zu sehen. Es war, als wollte der Ort die Eindringlinge vertreiben, um seine Bewohner gegen jene zu verteidigen, die Fragen stellten und herumschnüffelten. All dies verstärkte die innere Unruhe noch, die Markby von Anfang an verspürt hatte. Das Wissen, dass Sir Basil seine Gefühle teilte, war alles andere als ein Trost für ihn.

Unter den gegebenen Umständen war es gar nicht so einfach, die Smeatons zu finden. Sie lebten außerhalb der Stadt. Endlich kamen sie vor dem lang gestreckten, einstöckigen Steincottage an, das sich an einen steilen Hang schmiegte. Der Nebel waberte über den Firstziegeln des Schieferdachs. Sie stapften über den schmalen Weg zur Vordertür und klopften mit klammen Fingern an.

Gelber elektrischer Lichtschein hüllte sie ein, Wärme schlug ihnen entgegen, und eine Männerstimme rief:

»Gütiger Gott, wir dachten schon, Sie hätten aufgegeben! Kommen Sie herein, immer herein mit Ihnen!«

Markby hatte sich Lawrence Smeaton als einen großen, herrischen, lautstarken Mann vorgestellt. Tatsächlich war Smeaton klein, früher sicher einmal stämmig, doch inzwischen gebrechlich vom Alter. Er hatte seine militärische Haltung und Eleganz behalten. Seine Tweedjacke war Stück für Stück genauso alt wie die von Sir Basil, doch sie sah aus, als wäre sie soeben aus der chemischen Reinigung gekommen, und vielleicht war sie es auch. Seine Hosen hatten messerscharfe Bügelfalten, und seine Schuhe waren spiegelblank gewienert. Seine Frau war ein winziger Vogel von einer Person, mit ausdrucksvollem Gesicht und großen dunklen Augen, die unter einem dichten Schopf eisengrauer Haare zu Markby und Sir Basil hochsahen.

Beide eilten geschäftig um ihre Besucher herum und führten sie in ein behagliches Wohnzimmer, wo sie ihnen Plätze direkt vor einem prasselnden Kaminfeuer anboten.

»Wie schön, Sie wiederzusehen, Basil«, sagte Lawrence, als er sich überzeugt hatte, dass seine Gäste es gemütlich hatten.

»Und Sie kennen zu lernen, Mr Markby. Ich hoffe nur, ich kann Ihnen ein wenig behilflich sein.«

Mrs Smeaton hatte sich in die Küche zurückgezogen und etwas von Abendessen gemurmelt. Aus ihrer Richtung kam der Duft nach Knoblauch, Kräutern, Schalotten, gutem Kaffee und Weinessig … das Aroma einer französischen Küche, keiner britischen. Markby, in dessen Magen die SchinkenSandwichs noch immer schwer lagen, wünschte, er hätte sie erst gar nicht gegessen angesichts der Aussicht auf ein köstliches Abendessen.

Er murmelte seinen Dank, dass die Smeatons bereit gewesen waren, ihn zu empfangen und Fragen zu beantworten, doch es wurde schnell offensichtlich, dass die beiden alten Herrschaften nur selten Besuch empfingen und jeder, ganz gleich, aus welchem Grund er kam, um der Abwechslung willen willkommen war. Markby sah sich im Wohnzimmer um. Das Mobiliar war alt, aber bequem. An den Wänden hingen einige schöne Bilder, Szenen aus der Umgebung, wahrscheinlich von einem einheimischen Künstler gemalt. Vielleicht hatte Smeaton sie selbst gemalt? Die Einbauregale waren mit Büchern voll gestopft. Das Kaminfeuer spiegelte sich auf einer Unzahl polierter Messingstücke, den Souvenirs und Erinnerungsstücken eines ganzen Menschenlebens. Olivia hatte alles

»entrümpelt« und nichts behalten. Lawrence und seine Frau hatten das genaue Gegenteil getan.

»Wir hätten uns längst einmal wieder treffen sollen«, sagte Sir Basil nun.

»Sie müssen uns unbedingt einmal besuchen und eine Weile bleiben, Lawrence, Sie und Mireille.«

Lawrence Smeaton bewegte unablässig die Hände. Durch die pergamentene Haut seiner Handrücken schimmerten dicke Adern, und er trug einen massigen Siegelring, der ihm im Alter zu weit geworden war. Vielleicht um sein Zittern unter Kontrolle zu bringen, faltete er die Hände und rieb sie gegeneinander, als wären sie kalt. Die trockene Haut erzeugte ein schabendes Geräusch.

»Ich hatte vor einigen Jahren eine Reise in Ihren Teil der Welt geplant«, gestand Lawrence.

»Das war, als ich versucht habe, den Kontakt mit Olivia wieder aufleben zu lassen. Ich glaube, Sie wissen davon.« Er hob die Augenbrauen und hörte zu Markbys Freude mit dem irritierenden Händereiben auf.

»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie ihr geschrieben, Sir«, sagte Markby.

»Und sie hat sich geweigert, bitte verzeihen Sie, wenn ich zu persönlich werde, sie hat sich geweigert, Sie zu treffen.«

»Es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen«, sagte Lawrence Smeaton mit schiefem Grinsen.

»Sie scheinen ohnehin das meiste bereits zu wissen!« Er sah Markby sehr direkt in die Augen.

»Ihre Todesumstände sind doch nicht zweifelhaft, oder?«

»Soweit ich weiß, nicht, Sir«, antwortete Markby wahrheitsgemäß.

»Gut. Ich gestehe freimütig, dass mich das erleichtert. Ich wäre zu Olivias Begräbnis gekommen, doch meiner Frau ging es zu dieser Zeit nicht gut. Ich habe es wirklich bedauert, nicht dabei sein zu können. Ich bin altmodisch und denke wirklich, man sollte den Toten den letzten Respekt erweisen. Olivia wollte mich zwar nicht mehr sehen, solange sie am Leben war, doch ich denke, sie hätte es gutgeheißen, wenn ich auf ihrer Beerdigung gewesen wäre. Ich habe einen Kranz geschickt.«

»Haben Sie eine Vermutung, warum Olivia Sie nicht sehen wollte?«, fragte Sir Basil offen.

»Ich nehme an, dass sie mich immer noch gehasst hat«, erwiderte Lawrence Smeaton nicht weniger freimütig. Er erhob sich aus seinem Sessel und trat unter Sir Basils unverhohlen zustimmenden Blicken zum Sideboard, wo eine große Whiskeykaraffe stand.

»Normalerweise«, fuhr Smeaton fort, während er die Karaffe entkorkte, »normalerweise würde ich zögern, alte Geschichten aufzuwärmen, Geschwätz und Missverständnisse von gestern … eine schmerzhafte Sache ist das. Auf der anderen Seite bedeutet Ihr Besuch in gewisser Hinsicht eine Gelegenheit für mich. Ich denke, Sie nehmen beide ein Glas?« Sowohl Sir Basil als auch Markby nickten. Nachdem jeder ein Glas in der Hand hielt, kehrte Smeaton zu seinem Sessel zurück.

»Eine Gelegenheit, wenn ich das so sagen darf, Ihnen einiges von dem zu sagen, was ich Olivia sagen wollte und aus den bekannten Gründen nicht konnte.« Er nahm einen Schluck Whiskey.

»Aber ich denke, ich sollte von vorne anfangen.« Markby lehnte sich zurück. Der Wind rüttelte an den Scheiben, und das Feuer prasselte und knisterte. Eine weitere Präsenz schien sich im Wohnzimmer zu ihnen zu gesellen. Auch sie lauschte voller Interesse. Vielleicht erhielt Lawrence ja doch noch seine Gelegenheit, zu Olivia zu sprechen.

»Sie war eine außergewöhnlich schöne Frau.« Lawrence blickte ein wenig schuldbewusst zur Tür; er fürchtete offensichtlich, seine Frau könnte hören, wie er seine uneingeschränkte Bewunderung für eine andere kundtat.

»Aber sie war auch verflixt eigensinnig. Mein Bruder Marcus war ihr hoffnungslos verfallen. Er war ein feiner Mensch.« Lawrence stockte, und seine Blicke waren weit, weit entfernt in der Vergangenheit.

»Die Ehe steuerte einem vollkommenen und katastrophalen Desaster entgegen. Wäre er nicht im Krieg umgekommen, hätte sie vor dem Scheidungsrichter geendet, daran besteht nicht der geringste Zweifel.«

»Unvereinbare Persönlichkeiten?«, erkundigte sich Markby, als Smeaton in seine Erinnerungen verfiel und nicht weitersprach. Der alte Brigadegeneral zuckte zusammen.

»Was? Oh. Ja, so könnte man es nennen. Es steckte noch mehr dahinter, wie das so ist. Ich bin kein Seelenklempner.«

»Richtig.« Markby unterdrückte ein Lächeln.

»Diese Psychiater, so gut sie es ohne Zweifel meinen, erklären scheinbar immer alles damit, dass sie sagen, jemand hätte eine unglückliche Kindheit gehabt. Doch das galt nicht für Olivia. Ihre Eltern hatten sie angebetet und sie über alle Maßen verwöhnt. Als Ergebnis dachte sie wohl, alle anderen müssten sie ebenfalls anbeten. Die meisten Menschen taten es auch. Wer es nicht tat, wurde … überfahren, niedergewalzt wie ein Igel, der einem schweren Laster in den Weg kommt! Olivia dominierte jeden in ihrer Umgebung. Sehen Sie sich nur jene arme kleine Maus Violet Dawson an! Sie war schüchtern ohne Ende und extrem zurückhaltend. Nicht, dass sie keine hübsche Frau gewesen wäre, o nein, im Gegenteil! Sie hätte sogar Olivia ausstechen können, was das angeht. Ich lernte sie erst bei der Hochzeit kennen, als sie Olivias Brautjungfer spielte. Sie besaß dunkles Haar, wie Olivia, doch sie war ein wenig kleiner und schlanker gebaut. Ich hielt sie für mindestens genauso attraktiv, doch ihr fehlte einfach die Persönlichkeit, die Ausstrahlung. Was die Charakterstärke anging, war sie Olivia hoffnungslos unterlegen. Zuerst begriff ich nicht, warum Olivia die unglückselige Violet Dawson überall mit hinschleppte wie eine Trophäe – es sei denn, sie brauchte einen Spiegel für ihren eigenen Glanz.« Smeaton schnaubte leise.

»Es gibt ein Lied mit einem lustigen Refrain, der, glaube ich, ›und sie brachte ihre Mutter mit‹ lautet. Als Olivia Marcus heiratete, brachte sie Violet Dawson mit. Sie gingen eine richtiggehende Ménage à trois ein. Ich empfand es damals als seltsam, doch andererseits hielt ich es für eine zeitlich begrenzte Geschichte. Es herrschte Krieg, und viele Leute lebten vorübergehend in schwierigen Verhältnissen, weil sie ausgebombt waren oder was weiß ich. Freunde und Familien nahmen sie auf. Olivia hatte Violet Dawson aufgenommen, schön. Außerdem lebten allein stehende Frauen in jener Zeit nicht allein in einer Wohnung. Es galt als unschicklich. Daher war es vielleicht nicht so ungewöhnlich, wie es heute scheint, dass Olivia ihrer alten Schulfreundin ein Zuhause gegeben hatte. Doch bald stellte ich fest, dass es nicht ganz so einfach war, wie ich geglaubt hatte.« Lawrence rutschte auf seinem Sessel hin und her.

»Marcus hatte keinen Schimmer, was um ihn herum vorging. Ich war dessen ziemlich sicher. Schließlich hatte er Olivia soeben erst geheiratet, und ich glaube nicht, dass er sich vorstellen konnte, sie würde die Dawson ihm gegenüber vorziehen, um es unverblümt auszusprechen. Doch er hatte das Gefühl, dass die Freundschaft zwischen den beiden Frauen ein wenig zu intensiv war. Andererseits glaubte er wahrscheinlich, dass Frauen solche Freundschaften hatten. Er wusste es nicht besser. Jedenfalls hat er das zu mir gesagt. Er wusste wirklich nicht viel über Frauen, der gute Marcus. Er war ein naiver Junge in diesen Dingen. Ein brillanter Intellekt, aber naiv. Er stand vor einer wunderbaren akademischen Karriere, als der Krieg ausbrach. Sie wurde vorübergehend auf Eis gelegt, wie das bei so vielen Männern damals der Fall war. Er hätte sie ganz sicher wieder aufgenommen; an der Universität war ein Posten für ihn reserviert. Diese Verschwendung … Krieg ist ein blutiges Geschäft, aber das wirklich Kriminelle daran ist die unglaubliche Verschwendung.« Lawrence Smeaton schüttelte den Kopf.

»Ich spreche nicht nur von hellen Köpfen wie meinem Bruder. Jedes verlorene Leben ist eine schändliche Verschwendung von Möglichkeiten. Der französische Schriftsteller Saint-Exupéry, er wusste genau, was ich meine. Wenn Sie je etwas von ihm gelesen haben, dann wissen Sie das. Wenn nicht – lesen Sie etwas von ihm.«

»Warum, glauben Sie, hat Olivia Ihren Bruder geheiratet«, wagte Markby den alten Brigadegeneral zu unterbrechen.

»Wenn Sie so sicher waren, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war?«

»Weil Frauen zu dieser Zeit eben heirateten«, erwiderte Lawrence einfach.

»Es war die gesellschaftlich akzeptierte Norm. Jemand wie Olivia, gut aussehend, gebildet, mit reichlich Geld gesegnet und in der Gesellschaft bekannt. Sie war bei Hofe vorgestellt worden, und ihr Name wurde mit einer Reihe anständiger Männer in Verbindung gebracht, bevor der Krieg ausbrach – die Leute begannen sich zu wundern, wieso es keinem gelang, sie vor den Altar zu bringen. Dann kam der Krieg, und die Leute hatten es plötzlich sehr eilig zu heiraten. Nutze den Tag, war das allgemeine Motto. Man wartet nicht länger, wenn man nicht weiß, ob man die nächsten Wochen oder Monate überlebt. Junge Paare stürzten zum Standesamt, sobald der Soldat eine Woche Fronturlaub hatte, und nutzten die ihnen verbleibende Zeit, so gut es ging. Die Mädchen in Olivias Kreisen heirateten schneller, als man sich umsehen konnte, und oft Männer, die sie kaum kannten! Jemand wie Olivia, die den Generalstab durch das Land fuhr, war umgeben von gesunden jungen Männern, die jeden Tag lebten, als sei es ihr letzter, und das war es häufig genug auch. Sie hatte reichlich Gelegenheit, mit einem von ihnen zum Standesamt zu gehen und die Sache legal zu machen. Sie hatte unzählige Verehrer. Sie machte ihnen Mut, kokettierte mit ihnen bis zu einem gewissen Punkt und ließ sie abblitzen, wenn sie Feuer gefangen hatten und zu zudringlich wurden. Sie spielte mit den Gefühlen junger Männer, die ihr Leben für ihr Land aufs Spiel setzten – und darunter litt ihr Ruf. Ich weiß zum Beispiel mit Bestimmtheit, dass zwei adlige Witwen es als ihre Pflicht betrachteten, Olivia beiseite zu nehmen und ihr ernst ins Gewissen zu reden. Sie sagten ihr im Grunde genommen auf den Kopf zu, dass sie sich einen von ihnen aussuchen und mit ihm zum Standesamt gehen sollte, mit einem Schleier vor dem Gesicht und einem Anstecksträußchen auf der Bluse, und damit allen anderen Bewunderern klar machen, dass sie aus dem Rennen waren.« Lawrence vollführte eine heftige Geste mit der freien Hand.

»Marcus muss ihr erschienen sein wie die Antwort auf ein Gebet. Ich glaube ehrlich – und Gott möge mir vergeben, sollte ich mich irren –, ich glaube, sie hielt Marcus für einen aufrichtigen, vertrauensseligen Burschen, der ihr erlauben würde, Violet mit in das eheliche Haus zu nehmen, ohne je Verdacht zu schöpfen. Ich sage nicht, dass sie Marcus nicht mochte. Die Leute waren …« Lawrence verstummte erneut und starrte in die Flammen.

»Ein verdammt feiner Bursche«, murmelte er.

»Er hätte etwas Besseres verdient gehabt.« Es kostete ihn sichtlich Anstrengung, sich zusammenzureißen.

»Er hat es nie erfahren. Wenigstens glaube ich nicht, dass er etwas vermutete, und ich denke nicht, dass jemand es ihm gesagt hat. Ich danke Gott dafür.« Lawrence atmete tief durch.

»Doch nach dem Krieg, nachdem Marcus gestorben war, warf Olivia sämtliche Konventionen über Bord! Für sie war es vollkommen in Ordnung, sich gemeinsam mit einer Freundin häuslich niederzulassen. Es gab viele Frauen, die als Folge des Krieges alleine geblieben waren, und nicht wenige von ihnen kämpften dadurch gegen die Einsamkeit und die Armut der Nachkriegszeit an, dass sie ein Heim und die damit verbundenen Kosten mit jemand anderem teilten. Doch Olivia schien das nicht zu reichen. Es war ihr völlig gleichgültig, dass alle Welt erfuhr, wie viel enger ihre Beziehung zu Miss Dawson war. Die Menschen wollten es einfach nicht hören, doch Olivia bestand darauf. Es war unverzeihlich, nicht nur, weil die arme kleine Violet Dawson schrecklich unter dem Geschwätz der Leute litt und von der Gesellschaft geschnitten wurde. Olivia war stets sehr selbstsüchtig gewesen und hatte nie Rücksicht auf die Gefühle anderer genommen. Doch es war ihre Sache, was sie mit ihrem Leben anfing. Ich hätte mich niemals eingemischt, wenn es nicht um das Ansehen von Marcus gegangen wäre.« Smeaton blickte auf und sah Markby und Sir Basil aus verblassten, doch immer noch wild entschlossenen Augen an.

»Es ließ meinen Bruder dastehen wie einen verdammten Narren! Und damit wurde es zu meiner Angelegenheit. Ich durfte nicht zulassen, dass die Menschen hinter vorgehaltener Hand tuschelten, wie blind der arme Marcus gewesen war, weil er nicht gemerkt hatte, was sich vor seiner Nase abgespielt hatte. Einige Leute meinten sogar …« Smeaton stockte, doch dann riss er sich mit einer sichtlichen Anstrengung zusammen und fuhr fort.

»Einige Leute meinten, dass die Ehe lediglich geschlossen worden war, um äußerlichen Konventionen zu genügen, damit beide Seiten ihren eigentlichen sexuellen Vorlieben nachgehen konnten, ohne dass es zu einem Skandal gekommen wäre!« Markby, der gegenüber Wynne und Meredith etwas sehr Ähnliches vorgeschlagen hatte, blickte leicht verlegen drein. Smeaton war glücklicherweise so in seiner Erzählung gefangen, dass er es nicht bemerkte.

»Wenn ich etwas für meinen armen Bruder tun konnte, dann das, dafür zu sorgen, dass seine Frau in seinem eigenen Land und unter seinen Freunden Respekt gegenüber dem Toten an den Tag legte. Ich musste seinen Ruf vor ihren Mätzchen schützen. Man hätte erwarten dürfen, dass sie selbst so weit dachte – aber nein, nicht Olivia. Ich machte ihr sehr deutlich klar, dass sie auf keinen Fall in England bleiben konnte, wenn sie auf diese Weise mit der Dawson zusammenleben wollte!« Er entspannte sich ein wenig und lehnte sich in seinem Sessel zurück.

»Sie gingen nach Frankreich. Sie wissen, was dann geschah. Sie blieben einige Jahre lang dort und beschlossen dann aus Gründen, die ich nicht kenne, nach England zurückzukehren. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass Olivia das Leben in einer französischen Kleinstadt als sehr langweilig empfand. Sie war an London gewöhnt. Es hatte wohl zu wenig Gelegenheiten für sie gegeben, sich zu zeigen, wie sie es so gerne tat!«, schnaubte Smeaton. Dann wurde er wieder ernst.

»Auf dem Heimweg kam es zu jenem schweren Unfall, noch in Frankreich. Violet Dawson fand den Tod. Olivia kehrte alleine zurück, ließ sich in Parsloe St. John nieder und zog sich von allen Menschen zurück, soweit ich weiß. Jahre vergingen. Ich begann zu denken – wie man das so tut, wenn man älter wird –, dass ich vielleicht zu grob gewesen war. Die Trauer um Marcus ließ mich ungerecht werden. Schließlich hatte sie doppelt getrauert – zuerst Marcus, dann Violet. Ich begann zu überlegen, wie einsam sie sich jetzt fühlen musste. Ich dachte, ich versuche, mich mit ihr zu versöhnen und die Dinge ins Lot zu bringen. Ich schrieb ihr einen Brief, in dem ich vorschlug, dass wir uns treffen. Sie wollte mich nicht sehen. Sie ließ mir durch ihren Anwalt mitteilen, dass sie keinerlei Kontakt zu mir wünschte. Das war es. Jeder macht Fehler. Wir alle. Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich hatte versucht, ihn wieder gutzumachen, doch sie ließ mich nicht.« Die drei Männer saßen eine ganze Weile da, und keiner sagte ein Wort.

»Hat ihr Testament Sie überrascht?«, fragte Markby schließlich. Lawrence blickte überrascht auf.

»Nein – ich wusste überhaupt nichts von ihrem Testament. Sie und Marcus hatten im Krieg Testamente geschrieben, wie alle Leute, in denen sie ihren gesamten Besitz dem jeweils überlebenden Ehepartner vermachten. Ich war bei beiden Testamenten Zeuge, wie es der Zufall will, also wusste ich davon. Unnötig zu sagen, dass Violet die zweite Zeugin war. Später muss Olivia ein neues Testament aufgesetzt haben. Sie war eine reiche Frau und finanziell unabhängig. Sie hat ihr ganzes Vermögen der Wohlfahrt gestiftet, nicht wahr?«

»Den größten Teil, mit Ausnahme einiger kleiner Zuwendungen an Leute, die für sie gearbeitet hatten oder ihr in sonstiger Hinsicht freundlich entgegengekommen waren«, sagte Markby.

»Ich bin froh, dass irgendjemand freundlich zu ihr war«, sagte Lawrence.

»Ich war es nicht.«

Das Abendessen war ganz genau so, wie Markby sich das vorgestellt hatte. Eine aromatische Selleriesuppe, Pfeffersteaks mit Sauce béarnaise, ein köstlicher Aprikosenkuchen. Sie redeten erst nach dem Essen wieder über Olivia, als sie entspannt um das Kaminfeuer saßen, jeder ein Glas in der Hand, und Mrs Smeaton hinzugekommen war.

»Ich bin ihr zwei- oder dreimal begegnet«, berichtete Mireille Smeaton.

»Sie war eine sehr …« Mrs Smeaton wackelte mit den Fingern auf der Suche nach dem richtigen Wort.

»… eine sehr eigensinnige Persönlichkeit. Sie entschied sich für etwas, und das war es dann. Niemand konnte ihr einen einmal gefassten Entschluss ausreden. Sie tat mir Leid, weil sie sehr unglücklich war. Irgendetwas war in ihrem Leben schief gelaufen. Ich versuchte, mit ihr zu reden, mich mit ihr anzufreunden, doch das wollte sie nicht. Ich denke nicht gerne über sie nach, all die Jahre allein in diesem großen Haus in Parsloe St. John. Es war so eigenartig. Ich habe mich oft gefragt, warum sie nicht mehr Auto fuhr.«

»Oh, darüber habe ich mich auch gewundert«, sagte ihr Ehemann.

»Sie war eine höllische Fahrerin. Anscheinend hat Violets Tod sie erschüttert.«

»Das ist es, was ich mit eigenartig meinte«, sagte Mireille. Markby erschauerte. Ein leichter Lufthauch ging über seinen Rücken. Vielleicht war es auch nur Einbildung – das Wissen, dass Mireille im Begriff stand, ihnen etwas anzuvertrauen, das man besser nicht wusste.

»Ich habe ihren Nachruf gelesen«, sagte Mireille.

»Ich ha

be ihn aus der Zeitung ausgeschnitten und behalten. Darin stand, dass sie in einem Einspänner mit einem Pony durch die Landschaft gefahren ist.«

»Das ist richtig«, antwortete Markby.

»Das letzte Pony hat sie behalten, nachdem sie damit aufgehört hat. Es stand hinter dem Haus auf einer Koppel, wo es sein Gnadenbrot bekam. Als es … als es starb, bestand sie darauf, dass es auf der Koppel begraben wurde.«

Mireille schüttelte den Kopf.

»Aber Olivia hat mir einmal erzählt – und ich bin ganz sicher, ich erinnere mich sehr deutlich daran –, dass sie allergisch gegen Pferde war!«

»Was?« Das war Sir Basil. Er hatte vor dem Kamin gedöst und war mit einem Mal hellwach.

»Was war das, Mireille? Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich sicher! Eines Tages wollten ein paar Freunde mit den Pferden zu irgendeinem Fest reiten, irgendeine Dressur- und Springveranstaltung … kein Rennen. Ich hab vergessen, was es war. Jedenfalls dachte ich eigentlich, Olivia würde mitkommen. Aber sie sagte nein, unmöglich. Allein die Nähe zu Pferden würde bei ihr einen grauenhaften Ausschlag verursachen.« Mireille rieb sich zur Demonstration über den Arm.

»Eine Allergie. Und es war keine Ausrede, weil sie nicht mit uns gehen wollte. Die Allergie war der Grund dafür, dass sie sich für Autos zu interessieren begann. Pferde erzeugten bei ihr große Pusteln, ihre Augen juckten und tränten und so weiter. Wirklich unangenehm. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie in späteren Jahren in einem Einspänner mit einem Pony durch die Gegend gefahren sein soll.« Das Licht wird heller …

William Shakespeare

 

KAPITEL 22

DAS WETTER klarte

gegen Nachmittag auf und gestattete Moira und Meredith, einen Spaziergang zu unternehmen. Es war kein besonders schöner Spaziergang; die Wege waren nass, die Luft feucht. Sie kehrten nach Hause zurück und setzten sich vor den Kamin zu Hefeplätzchen und Tee.

Ein Anruf gegen sechs Uhr informierte sie, dass a) Sir Basil unbequem in eine Telefonzelle am Straßenrand gequetscht stand, b) die zuvor erwähnte Telefonzelle in der Gegend von Keswick stand, c) es fast unmöglich war, eine Hand vor Augen zu sehen und d) die Reisenden nach ihrem Besuch bei den Smeatons beabsichtigten, in einem kleinen Hotel zu übernachten und erst am folgenden Tag nach Hause zurückzukehren.

»Es geht ihnen gut«, berichtete Moira, als sie wieder neben Meredith vor dem Kamin saß.

»Wir können die beiden für den Rest des Abends vergessen und es uns gemütlich machen.«

Das Ergebnis war, dass Meredith das Heim der Newtons erst viel später verließ, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Die ursprüngliche Einladung zum Mittagessen hatte sich irgendwie verselbstständigt und bis halb neun abends ausgedehnt. Als Meredith Anstalten machte aufzubrechen, hatte Moira ihr Angebot erneuert, Meredith über Nacht aufzunehmen.

Sie war kaum zwei Kilometer weit gekommen, da bereute sie bereits, das Angebot ausgeschlagen zu haben. Doch sie hatte die warmherzige Gastfreundschaft Moiras an diesem Tag mehr als genug strapaziert, und sie wollte unbedingt zu Hause sein, falls Alan am Abend im Cottage anrief. Außerdem musste sie auch an Wynne denken, die alleine in ihrer Hälfte des Doppelhauses saß und wahrscheinlich ängstlich durch das Fenster nach draußen sah und auf die Rückkehr von Meredith wartete.

Die Landstraße lag leer und verlassen da; kein anderer Verkehr war unterwegs. Jeder mit ein wenig Verstand war daheim. Die Wolken hingen tief über dem Land und machten die Nacht stockdunkel, etwas, woran Meredith hätte denken müssen. Sie überlegte, dass der nordamerikanische Indian Summer, den sie so lange genossen hatten, nichts als eine Illusion gewesen war und die Nächte inzwischen doch empfindlich abkühlten. Ein kurzer Herbst stand bevor. Die Blätter an den Bäumen hatten gerade erst angefangen, sich zu verfärben, doch der Wind und der Regen des Tages hatten schon eine Menge von den Bäumen geweht.

Die hohe Wölbung der gewundenen Landstraße hatte das Wasser zu den Seiten hin ablaufen lassen, wo es sich in großen Lachen sammelte. Das zwang Meredith dazu, in der trockenen Straßenmitte zu fahren und unablässig auf Gegenverkehr zu achten. Doch kein anderes Fahrzeug kam ihr entgegen, und sie begann sich zu fragen, ob die Straße weiter vorn unpassierbar geworden sein könnte. Sie führte an den Stehenden Steinen vorbei, und in jener Gegend, so erinnerte sie sich deutlich, lief permanent Wasser über die Straße. Vielleicht hatte das zusätzliche Regenwasser eine regelrechte Flut daraus werden lassen, was sie dazu zwingen würde umzukehren.

Das schlechte Licht spielte ihren Augen Streiche. Bäume am Straßenrand wirkten größer, als sie eigentlich waren, und die Zweige ragten bedrohlich dicht auf die Straße und den Wagen hinunter. Die Felder lagen in einem tristen Dunst. Ihr Zeitgefühl schien unter der eigenartigen Atmosphäre zu leiden, denn sie musste immer wieder auf die Uhr im Armaturenbrett sehen. Nirgendwo waren Tiere. Meredith fühlte sich unheimlich und allein und verspürte große Erleichterung, als ihre Scheinwerfer mitten auf der Straße vor ihr einen einsamen Fußgänger erfassten.

Seiner Kleidung nach war er ein Landbewohner, dem das Wetter nicht das Geringste auszumachen schien. Er trug eine wasserdichte Jacke, die ihm viel zu groß war, und hielt sie mit den Händen zusammen, als würde er darunter etwas verstecken. Auf dem Kopf trug er eine Wollmütze, die er sich bis über die Ohren gezogen hatte. Sie wusste nicht, woher er gekommen sein mochte, hier draußen, so weit entfernt von jeder Ansiedlung. Vielleicht von einer Farm. Sie tippte auf die Hupe, um ihn zu warnen.

Er hatte den sich nähernden Wagen hinter sich bereits gehört und machte Anstalten, zur Seite zu weichen. Als Meredith hupte, sprang er die Böschung hinauf. Er hatte etwas Verstohlenes, Schuldbewusstes an sich und bewegte sich weniger wie ein Mann, der dem Verkehr ausweicht, sondern eher wie jemand, der nicht gesehen werden will. Vielleicht ist er ein Wilddieb, überlegte Meredith.

Neugierig geworden, blickte sie in den Rückspiegel, als sie vorbei war, um die Gestalt von vorne zu sehen. Zur gleichen Zeit hob der Fußgänger den Kopf und sah dem Wagen hinterher.

Es war Kevin Berry. Er hatte sie ebenfalls erkannt. Als Meredith bremste, sprang er über eine niedrige Steinmauer und rannte über das dahinter liegende Feld davon. Meredith zögerte keinen Augenblick, sondern stieß die Wagentür auf und sprang nach draußen – mitten hinein in eine ausgedehnte Pfütze am Straßenrand. Sie stieß einen unterdrückten Fluch aus, zog die Füße aus dem Wasser und kletterte sehr unelegant den Hang hinauf, um Kevin zu folgen. Das hohe, nasse Gras streifte unangenehm um ihre Knöchel. Sie erreichte den Kamm und fand ihren Weg durch eine alte Trockensteinmauer versperrt. Sie war nicht so athletisch wie Kevin, deswegen suchte sie nach einer Lücke, in die sie ihren Fuß stecken konnte, um sich anschließend über die Krone zu ziehen. Kevin hatte inzwischen einen beträchtlichen Vorsprung und war bereits halb über das Feld hinweg. Er bewegte sich ungelenk über den weichen Boden und ruderte beim Laufen mit einem Arm, während der andere weiter die Jacke fest an den Leib gedrückt hielt und den Gegenstand darunter verbarg. Meredith legte die Hände trichterförmig an den Mund und rief Kevins Namen, so laut sie konnte, doch der Wind wehte die Worte davon. Sie setzte zur Verfolgung an, wahrscheinlich ein vergebliches Unterfangen, doch falls es ihr gelang, ihm ein wenig näher zu kommen, würde er sie vielleicht hören können. Sie empfand eine persönliche Verantwortung für den Zustand des Jungen, und wenn sie schon nichts anderes für ihn tun konnte, so würde sie ihm wenigstens eine Mitfahrgelegenheit nach Hause anbieten, um ihm den weiten Weg durch Wind und Wetter zu ersparen. Der Untergrund war nicht fürs Laufen geschaffen. Beide rannten, so schnell sie konnten, ohne recht voranzukommen. Merediths Füße sanken immer wieder in Furchen und Löcher, und es war geradezu halsbrecherisch. Jeder Schritt nach vorn war ein Schritt in unbekanntes Terrain. Das Laufen verwandelte sich in eine Serie unkontrollierter Stolperschritte wie bei einem neugeborenen Lamm, das zum ersten Mal auf den wackligen Beinen stand. Die Anstrengung war schier unbeschreiblich. Ein- oder zweimal drehte sich Kevin nach ihr um. Er war unübersehbar in heller Panik. Jedes Mal rief Meredith seinen Namen und winkte ihm, doch er wandte sich ab und rannte weiter, als wäre der Teufel hinter ihm her. Meredith durfte ihn nicht mit seiner Angst alleine lassen. Sie musste ihm erklären, dass er ihr vertrauen konnte, dass sie nichts weiter von ihm wollte als helfen. Sie hatten den größten Teil des freien Feldes überquert und näherten sich einem kleinen Wäldchen. Meredith erkannte, dass Kevin genau dorthin wollte. Er stand im Begriff unterzutauchen. Falls er vor ihr dort ankam, würde sie ihn nicht so einfach wiederfinden. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, doch dann setzte schmerzhaftes Seitenstechen ein. Ihre Lungen brannten, ihr Herz drohte zu springen, und ihre Beine wurden immer schwächer. Der unebene Untergrund forderte auch von Kevin seinen Tribut. Ohne Vorwarnung stolperte er und wäre fast gestürzt. Er blieb schwer atmend stehen, um Kräfte zu sammeln.

»Kevin!«, rief Meredith.

»So warten Sie doch! Sie müssen keine Angst haben! Ich will Ihnen nichts tun!« Doch er rannte wieder los und sprang mit unsicheren Schritten in Richtung der Bäume. Sie kamen Meredith irgendwie vertraut vor – und plötzlich erkannte sie, wo sie war. Hinter jenen Bäumen dort lag die Wiese mit den Stehenden Steinen! Noch ein Stück weiter, am Ende des Wäldchens, hatte sie zusammen mit Markby gestanden und heimlich die Tänzer und das Freudenfeuer beobachtet. Irgendwie war es ihr gelungen, den Abstand zu Kevin zu verringern, doch es war zu spät. Er verschwand zwischen den Bäumen und war nicht mehr zu sehen. Meredith blieb nach Atem ringend stehen. Sie war schweißgebadet und krümmte sich vor Seitenstechen, die Hände auf die Knie gestemmt, während sie sich bemühte, ihre zitternden Muskeln wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie konnte eigentlich umkehren. Andererseits, falls Kevin sich dort irgendwo versteckte – jetzt, da sie mehr oder weniger wusste, wo sie war, verspürte sie wenig Neigung aufzugeben. Sie setzte sich wieder in Bewegung, weniger eilig diesmal, und blieb unter den ersten, von Rankengewächsen überwucherten Stämmen stehen.

»Kevin, können Sie mich hören?« Es war sehr dunkel unter den Bäumen, und sie war wenig geneigt, ihm tiefer in den Wald zu folgen. Sie lauschte angestrengt in die Finsternis und wurde mit einem scharfen Knacken belohnt, wie von einem brechenden Zweig.

»Kevin? Sie müssen keine Angst haben! Sie können rauskommen. Ich nehme Sie in meinem Wagen mit nach Hause.« Schweigen.

»Es tut mir Leid, wenn ich Sie erschreckt habe, gestern in Ihrem Cottage. Das lag nicht in meiner Absicht. Kevin?« Unsicher machte sie ein paar Schritte tiefer in das Wäldchen. Dunkelheit umfing sie, als hätte jemand das ohnehin schwache Licht draußen auf dem Feld ganz ausgeschaltet. Vor ihr lag ein Pfad, der sich zwischen dem Unterholz hindurchwand und von Brombeeren und Nesseln gesäumt war. Sie stieß mit dem Fuß gegen einen herabgefallenen Ast. Sie bückte sich und brach einen Zweig ab, den sie als Taststock benutzte. Sie hielt ihn vor sich ausgestreckt, um herabhängende Zweige oder andere Hindernisse rechtzeitig zu spüren, und setzte sich erneut in Bewegung. In regelmäßigen Abständen hielt sie inne, um zu lauschen.

»Kevin, falls Sie mich hören können, bitte kommen Sie raus. Ich kann Sie nach Hause fahren. Es fängt vielleicht wieder an zu regnen. Waren Sie gestern Abend zu Hause? Sie können doch nicht ewig hier draußen bleiben und im Freien leben!« Ein Rascheln irgendwo zur Linken. Vielleicht war es Kevin, vielleicht Wasser, das von den Zweigen tropfte, oder vielleicht ein Tier. Verdammter Kerl! Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst! Vor Meredith wurde es plötzlich wieder heller. Sie hatte den schmalen Waldsaum durchquert und das Feld auf der anderen Seite erreicht. Erleichtert trat sie ins Freie, froh, die klaustrophobische Dunkelheit unter den Bäumen überwunden zu haben. Und dort – soll man es glauben? Dort spazierte Kevin seelenruhig vor ihr über das Feld. Er hatte offensichtlich angenommen, sie würde ihm nicht durch den Wald folgen, sondern aufgeben und umkehren. Kevin fühlte sich nicht länger verfolgt, und so hatte er es nicht einmal sonderlich eilig. Er hielt sie zum Narren. Entschlossen rannte Meredith los. Ihre Schritte im hohen, nassen Gras waren beinahe geräuschlos. Kevin merkte erst, dass sie ihn immer noch verfolgte, als er schon fast bei den beiden Stehenden Steinen angelangt war. Entweder ein sechster Sinn oder ein leises Quatschen nasser Erde ließen ihn aufhorchen. Er wirbelte herum. Sein Unterkiefer sank herab. Sein Gesicht schimmerte merkwürdig weiß im umgebenden Halbdunkel. Er fummelte unter der Jacke und brachte den Gegenstand zum Vorschein, den er so sorgsam zu verbergen getrachtet hatte. Meredith hatte im ersten Augenblick geglaubt, einen Wilderer vor sich zu haben, als sie Kevin im Licht ihrer Scheinwerfer auf der Straße entdeckt hatte, und ihr hätte bewusst sein müssen, dass Wilderer Waffen bei sich trugen. Meredith erstarrte. Kevin hielt ein Gewehr in der Hand, und der lange, schlanke Lauf glänzte in der Dunkelheit. Sie standen vielleicht drei Meter auseinander, und Meredith sah, dass es eine teure Waffe und ein aktuelles Modell war. Vermutlich hatte das Gewehr Ernie gehört; er war genau die Sorte Mann gewesen – wie Alan ganz richtig festgestellt hatte –, die einen Fernseher ohne Anmeldung oder einen Wagen ohne TÜV benutzte oder eben ein Gewehr ohne Waffenschein. Wildern war für einen Mann wie Ernie Berry wahrscheinlich ganz natürlich. Wahrscheinlich hatten die Berrys sich auf diese Weise ein hübsches Nebeneinkommen verschafft, nach der modernen, teuren Waffe zu urteilen, die leicht und zielgenau war. Kevin hielt das Gewehr in beiden Händen, und der Lauf war, wie Meredith erleichtert feststellte, nach unten gerichtet. Mit hoher, vor Angst verzerrter Stimme warnte er sie:

»Kommen Sie nicht näher!«

»Hören Sie, Kevin«, sagte Meredith so vernünftig, wie sie unter den gegebenen Umständen konnte, »Sie wissen, wer ich bin und dass ich Ihnen nichts tue. Es tut mir Leid, wenn ich Sie in Ihrem Cottage so erschreckt habe, aber Sie können beruhigt wieder nach Hause gehen. Ich weiß, dass Sie in unserer Küche waren und Mrs Carters Blumenbeet zerstört haben und dass Sie den Abbeizer über Mr Armitages Wagen geschüttet haben. Inspector Crane weiß es ebenfalls. Aber wir verstehen Sie. Wir wissen, dass Sie uns als Feinde betrachtet haben, welche Gründe Sie auch immer dafür hatten. Doch wir sind nicht Ihre Feinde, Kevin. Wir wollen Ihnen helfen, wir alle. Niemand will Ihnen etwas Böses. Es wird bereits spät, es ist dunkel und kalt hier draußen, und in der Nacht gibt es sicher noch einmal Regen. Mein Wagen steht unten an der Straße …« Unklugerweise hob sie die Hand, um in die Richtung zu zeigen, aus der sie gekommen war. Der Lauf des Gewehrs zuckte hoch.

»Kommen Sie ja nicht näher! Ich werde schießen!« Meredith konnte seinen hässlichen abgebrochenen Zahn sehen, wenn er sprach. Der Mantel, den er trug, war viel zu groß für ihn – und der Umfang verriet Meredith, dass er auf der Innenseite Wilderertaschen besaß.

»Ich möchte Ihnen doch nur helfen!«, wiederholte Meredith drängend. Kevin verzog das Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse.

»Niemand hat mir je geholfen!«

»Uns allen ist bewusst, dass Sie um Ihren Vater trauern …«

»Er war nicht mein Vater!« Kevin stieß die Worte mit unerwarteter Heftigkeit hervor. Der Lauf des Gewehrs zuckte erneut, doch dann senkte er die Waffe zu Merediths unausgesprochener Erleichterung wieder. Er hat ganz vergessen, wurde ihr bewusst, dass er ein Gewehr in den Händen hält! Doch seine Worte machten sie neugierig.

»Ernie war nicht Ihr Vater? Es tut mir Leid, aber man hat mir gesagt, Ernie wäre … er wäre Ihr Vater.«

»Ich hatte nie einen Vater! Ich weiß nicht, wer mein Vater ist. Meine Mum war bereits mit mir schwanger, als sie bei Ernie einzog. Er hat es mir erzählt, immer und immer wieder hat er es mir gesagt, schon als ich noch ein kleiner Junge war, bis zum Ende, bis er tot war. ›Du bist ein Bastard, und niemand weiß, wer dein Vater ist!‹, das hat er immer wieder zu mir gesagt. Meine Mum hat mich mit zu ihm gebracht – und mich bei ihm zurückgelassen, als sie wegging!« In seiner Stimme lag so unendlich tiefer, trostloser Schmerz, als er Meredith die letzten Worte entgegenschleuderte, als all die Jahre eines verlassenen Kindes voller Verzweiflung und Einsamkeit ihren Ausdruck fanden, dass Meredith automatisch die Hände ausstreckte und auf ihn zutrat, um ihn zu trösten. Kevin wich augenblicklich vor ihr zurück.

»Bleiben Sie stehen!«, warnte er sie.

»Ich bleibe stehen, Kevin. Tun Sie das Gewehr weg.« Er grinste wild, und ein verwegener Ausdruck stahl sich auf sein Gesicht.

»Nein. Nein, ich sage jetzt, was gemacht wird, richtig? Ich gebe die Befehle, und Sie tun, was ich sage. Ich hab noch nie die Befehle gegeben. Ich war immer nur Berrys Junge. Er hat mich wie Dreck behandelt, Ernie. Er hat mich durch das ganze Haus geprügelt, nur so zum Spaß, als ich noch ein kleiner Bengel war, ohne jeden Grund! Er mochte mich nicht, aber er mochte es, mich windelweich zu schlagen. Sie hat ihn nie daran gehindert, solange sie noch da war, und dann war sie weg.« Kevin runzelte die Stirn.

»Manche Leute lassen alte Kleider liegen und andere Sachen, die sie nicht mehr wollen. Meine Mutter hat mich zurückgelassen. Sie war ein richtiges Miststück. Sie waren alle gleich! Sie haben mich alle immer nur wie ein Stück Dreck behandelt. Alle!«

»Es tut mir Leid, Kevin …« Es klang schwach, doch was sonst hätte sie sagen sollen?

»Ernie hat mich immer und immer wieder verprügelt, bis zum Schluss.« Kevin hegte einen tiefen Groll, und nun, da er seine Stimme wiedergefunden hatte, wollte er, dass sie alles erfuhr.

»Ich hatte immer blaue Flecken, überall am Leib, und niemand hat etwas dagegen getan. Niemand hat mich von ihm weggeholt.« Der abgebrochene Zahn, ohne Zweifel Folge eines Faustschlags von Ernie, leuchtete im Dunkeln auf, als Kevin erneut höhnisch grinste.

»Alle wussten Bescheid, und niemand hat etwas getan! Leute, die mir hätten helfen können, haben nichts getan! Die alte Ma Carter hätte mir helfen können, sie tut doch sonst auch gute Sachen, oder? Geht rum und sammelt für die Kirche und alles. Aber mir hat sie nie geholfen. Für mich hat sie nie was getan. Oder der Tierarzt in seinem großen Haus mit seinem großen Wagen … er wusste Bescheid. Er hat nichts getan. Dieser Mistkerl! Crombie war der Schlimmste von allen. Er hat gesehen, wie Ernie mich über den ganzen Hof geprügelt hat, und er hat dabei gelacht! Gelacht hat Crombie!« Das ist ja grauenvoll, dachte Meredith. Es war grauenvoll. Lebenslange Misshandlung. Kevin war um die neunzehn Jahre alt, schätzte sie. Neunzehn Jahre voller Prügel und Flüche und Beleidigungen und Schmach wegen seiner Herkunft. Lange genug, als dass die Dorfbewohner etwas hätten merken müssen. Doch niemand hatte sich einmischen wollen. Sie gingen davon aus, das Kevin der Sohn Ernies war, weil seine Mutter in Ernies Cottage gelebt hatte, als Kevin zur Welt gekommen war. Außerdem war Ernie auf seine Weise ein nützlicher Mann gewesen, der alles reparieren konnte, und für wenig Geld. Ein harter Bursche, dem man besser nicht in die Quere kam.

»Sie wollten Rache«, stellte Meredith leise fest.

»Das ist der Grund, aus dem Sie Wynnes Blumenbeet zerstört und den Range Rover von Armitage mit Abbeizer übergossen haben. Sie haben sogar das Pony vergiftet. Das war falsch, Kevin. Sie haben einem anderen lebenden Wesen Schaden zugefügt, das Ihnen überhaupt nichts getan hat. Es war doch nur ein armes Pferd auf einer Koppel.«

»Es war ihr Pferd!«, entgegnete Kevin voller Hass.

»Es gehörte der alten Lady. Sie war nicht besser als die anderen. Sie hätte mir helfen können. Ernie hatte Angst vor ihr. Sie war eine Vornehme, und sie hat hochgestochen geredet! Sie hätte ihm sagen können, dass er mich in Ruhe lassen soll, und er hätte ihr gehorcht. Sie hat nie etwas gesagt.«

»Kevin …« Eine nächtliche Brise kam auf und zerzauste Merediths Haare. Es wurde immer dunkler, und Kevins Gesicht schimmerte undeutlich vor ihr. Die Worte saßen ihr im Hals wie ein Kloß, doch sie mussten ausgesprochen werden, auch wenn sie die Antwort fürchtete.

»Kevin, haben Sie Mrs Smeaton die Treppe hinuntergestoßen?«

»Was?« Er starrte sie verblüfft an.

»Natürlich nicht!«, platzte es wütend aus ihm hervor.

»Gott sei Dank«, sagte Meredith.

»Weil sie versucht hat, Ihnen zu helfen, Kevin. Sie hat Ihnen in ihrem Testament ein wenig Geld hinterlassen.«

»Zweihundert Pfund!«, stieß Kevin bitter hervor.

»Zweihundert verdammte Pfund. Ich hab das Geld nie bekommen. Ernie hat es genommen. Er hat es mir weggenommen. Er hatte eine hübsche neue Freundin drüben in Long Wickham und hat alles mit ihr zusammen verprasst. Ich hätte mit diesem Geld abhauen können, irgendwohin gehen und alleine neu anfangen. Aber er hat es mir weggenommen. Ich hab mir geschworen, dass ich ihm das heimzahlen würde.«

»Und das haben Sie ja wohl auch«, sagte Meredith.

»Sie haben ihn umgebracht, nicht wahr, Kevin?« Meredith atmete tief durch.

»Aber jedes Gericht der Welt würde Nachsicht walten lassen. Sie wurden grausam misshandelt und immer wieder provoziert.«

»Sind Sie bescheuert oder was?«, kreischte Kevin sie wuterfüllt an.

»Warum wollen Sie mir bloß immer anhängen, ich würde irgendwelche Leute umbringen? Ich hab nie jemanden umgebracht! Auch nicht Ernie! Ich hatte viel zu viel Schiss vor ihm! Er war bereits tot, als ich ihn gefunden hab, unter diesem Baum auf der Koppel. Jemand war vor mir da gewesen und hat ihm die Kehle durchgeschnitten! Scheint, irgendjemand anderes wollte es ihm ebenfalls heimzahlen und war schneller als ich. Aber ich dachte, ich lass mich nicht um meine Rache bringen. Ich bin ein großes Messer holen gegangen, das wir immer benutzt haben, um die Büsche in den Gärten rings um Rookery House zurückzuschneiden. Es war in einem Schuppen auf dem Grundstück. Ich hab das Messer genommen und Ernie den Kopf abgehackt!« Kevin kicherte, ein freudloses, rachsüchtiges Geräusch, das Meredith das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Ich hab ihm den Kopf abgehackt und ihn in den Garten des Tierarztes geworfen, zwischen die Rosenbüsche. Die Alte vom Tierarzt gibt immer mit ihren blöden Rosen an. Jede Wette, dass ich ihr einen hübschen Schrecken eingejagt hab!« Es war genau, wie Alan gesagt hatte. Kevin hatte ganz und gar den Bezug zur Realität verloren; sein Verstand war unrettbar krank. Doch es hätte nicht so weit kommen müssen. Nicht, wenn nur ein Einziger aus dem Dorf die Misshandlungen gemeldet hätte, die der kleine Junge Kevin in jenem abseits gelegenen Cottage von Ernies Hand erlitten hatte. Nicht, wenn auch nur ein Einziger aus dem Dorf sichergestellt hätte, dass die Fürsorge oder die Polizei, oder wer auch immer der Anzeige nachgegangen wäre, Ernie das Kind weggenommen hätte. Doch die braven Bürger von Parsloe St. John hatten die Augen abgewandt. Neu Hinzugezogene wie Wynne und Rory Armitage hatten es als eine Angelegenheit der Einheimischen betrachtet, die sie unter sich ausmachen sollten, wohl wissend, wie negativ jede Kritik von außen aufgenommen wurde. Die Einheimischen ihrerseits waren der Meinung, dass Familienangelegenheiten innerhalb der Familie zu bleiben hatten und dass die Fürsorge kein Recht hatte, sich in irgendeiner Form einzumischen. Doch da war noch etwas Wichtiges, das Meredith klären musste, jetzt und hier. Falls Kevin die Wahrheit sagte – und Meredith hatte keine Veranlassung, dem Jungen nicht zu glauben – und er Ernie bereits tot aufgefunden hatte, dann war jemand anderes der Mörder. Wer? In diesem Augenblick fiel ihr etwas ein, das sie ganz vergessen hatte. Der Fund von Ernies kopflosem Leichnam unter dem Baum auf der Koppel, ihre anschließende Flucht zu Alan, die Polizei, die Aussage, die sie zu Protokoll gegeben hatte – es hatte ihre Erinnerung an alles andere außer jenem grauenvoll verstümmelten Leichnam unter dem Baum ausgelöscht. Der Schock hatte eine Tür in ihrem Kopf zugeschlagen, die sich nun wieder öffnete und ihr gestattete, die ganze Szene in aller Deutlichkeit vor sich zu sehen. Sie sah sich selbst, wie sie an jenem schrecklichen Nachmittag die Einfahrt zu Rookery House hinaufspazierte. Das Gebäude lag vor ihr, majestätisch und erhaben in seinen georgianischen Proportionen. Ringsum im ersten Stock waren die Fensterläden zurückgeklappt gewesen, wie sie sich nun erinnerte. Sie erinnerte sich nun auch, wie sie gedacht hatte, dass jemand dort gewesen war, um das Haus zu lüften. All das hatte sie vergessen. Jetzt erinnerte sie sich nicht nur wieder daran, sondern auch an die Bedeutung dieser Beobachtung. Aus dem ersten Stock konnte man ungehindert über den Garten hinweg zur Koppel sehen. Man konnte mit Leichtigkeit die unverwechselbare Gestalt Ernies erkennen, der sich auf ein Nickerchen unter den Kastanienbaum gelegt hatte. Nur eine Person in Parsloe St. John besaß den Schlüssel zu Rookery House und ging regelmäßig dorthin, um nach dem Rechten zu sehen. Nur eine Person öffnete, nach ihren eigenen Worten, regelmäßig die Läden, um das Haus zu lüften. Janine Catto. Janine Catto mit dem mysteriösen blauen Auge. Einem blauen Auge, das sie angeblich von einem Exfreund hatte. Als Meredith Alan davon erzählt hatte, war seine erste Frage gewesen, ob vielleicht jemand den fraglichen Exfreund gesehen hatte. Nun, hatte jemand? Oder war er gekommen und gegangen, flüchtig wie ein Irrlicht, und nur Janine hatte ihn bemerkt? Und wenn es Ernie gewesen war, der sich ständig im Dorf herumtrieb und von dem jeder wusste, dass er schnell mit den Fäusten bei der Sache war …?

»Kevin«, sagte Meredith rau.

»Wir müssen zurück nach Parsloe St. John. Es ist sehr wichtig. Wir müssen Inspector Crane anrufen und ihr erzählen, wie Sie Ernie gefunden haben.«

»Und ihr erzählen, dass ich ihn umgelegt habe, wie?«, brüllte Kevin sie an. Er hob erneut das Gewehr.

»Nein. Ich weiß, dass Sie es nicht gewesen sind …«

»Vor einer Minute haben Sie gesagt, ich wäre es gewesen! Sie haben gesagt, ich hätte Ernie umgebracht und außerdem die alte Lady! Wenn es nach Ihnen geht, hab ich alle umgebracht!«

»Ja, aber ich habe mich geirrt, und jetzt weiß ich, wer Ernie wirklich umgebracht hat.«

»Sie gehen nirgendwo hin.« Kevins Stimme klang heiser und gemein.

»Sie werden den Leuten keine Lügen über mich erzählen! Sie glauben, ich hätte alle umgebracht. Vielleicht sollte ich ja wirklich jemanden umbringen! Vielleicht sollte ich Sie umbringen!« In der Ferne, dort, wo Parsloe St. John lag, zuckte ein Blitz über den Himmel, gefolgt von lang anhaltendem Grollen. Und in diesem kurzen Augenblick voll Helligkeit sah Meredith den Jungen ganz deutlich. Er stand seitlich und ein klein wenig vor dem Stehenden Mann und hielt das Gewehr direkt auf Meredith gerichtet. Sein Gesicht war weiß, und seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen – doch nicht wegen ihr. Er starrte auf etwas hinter Meredith, das im Licht des Blitzes sichtbar geworden war.

»Sei nicht albern, Kevin«, sagte eine vertraute weibliche Stimme. Merediths Nackenhaare sträubten sich, von der Elektrizität in der Luft und von der Empfindung, dass hier etwas geschah, das ihren Horizont überstieg. Sie drehte sich um. Ein zweiter Blitz zuckte über den Himmel und enthüllte den Blick auf Sadie Warren, die nur wenige Meter hinter ihr stand, nüchtern gekleidet in einen gelben Regenmantel und einen Südwester, dessen Krempe vorne hochgeschlagen war und hinten bis tief in den Nacken ragte.

»Kommen Sie mir nicht zu nahe!«, kreischte Kevin mit sich überschlagender Stimme.

»Leg das Gewehr hin, Kevin.« Sadie redete ganz normal mit dem Jungen, doch in ihren Worten schwang eine unterschwellige Autorität.

»Es nützt dir nichts mehr. Es nützt dir überhaupt nichts gegen mich.«

»Ich hab Ihnen doch gar nichts getan!«, wimmerte Kevin.

»Doch, das hast du, Kevin. Du warst sehr böse. Du hast mit Teig gespielt und diese Figuren gemacht und dich in Dinge eingemischt, die du nicht verstehst. Du bist mit einem Gewehr hierher gekommen und hast Gewalt angedroht. Hier, an diesem heiligen Ort! Das war mehr als dumm, Kevin! Das war falsch. Du hast diesen heiligen Ort der Anbetung entweiht, und das kann ich nicht dulden, Kevin.« Kevin murmelte, dass er eigentlich gar nicht hierher hatte kommen wollen und dass Meredith ihn über die verdammten Felder gejagt hätte.

»Wie sind Sie überhaupt hergekommen?«, beendete er seine Erklärung mit einer Gegenfrage.

»Ich bin hergekommen, Kevin, weil ich hierher gezogen wurde.« Sadies massige Gestalt schwebte näher und tauchte wie ein großer gelber Plastikballon aus der Dunkelheit hinter Meredith auf.

»Ich wurde hierher gezogen, weil die heiligen Steine in Gefahr sind. Jetzt bin ich hier, und du wirst tun, was ich dir sage. Leg das Gewehr weg.« Kevin stieß einen unterdrückten Schluchzer aus. Ein weiterer Blitz zuckte grell über den Himmel, und in diesem Augenblick wandte er sich ab und wollte fliehen. Doch noch in der Bewegung stieß er einen lauten, angstvollen Schrei aus und machte einen Satz in die Luft, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Er wurde herumgewirbelt und stürzte schwer zu Boden. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, als das Gewehr losging. So lasst uns Nachlassverwalter wählen und über Testamente sprechen. William Shakespeare

KAPITEL 23

»ICH KANN nicht genau sagen, was passiert ist«, sagte Meredith.

»Ich kann nur sagen, was ich gesehen habe, und erklären, was meiner Meinung nach geschehen sein muss.«

»Es muss reichen«, sagte Rory Armitage.

Sie hatten sich in Wynne Carters Wohnzimmer versammelt. Der Anstoß für die Versammlung war von Markby gekommen.

»Wir reisen am Sonntag ab«, hatte er Meredith erklärt, »und ich möchte keinen wilden Haufen von Gerüchten und Missverständnissen zurücklassen. Es hat bereits viel zu viele davon in diesem Dorf gegeben. Ich möchte, dass die Angelegenheit ein für alle Mal geklärt wird und die Leute erfahren, was wirklich geschehen ist. Wir werden Wynnes Hilfe benötigen. Ich möchte, dass jeder kommt, und ich kann mir denken, dass inzwischen alle misstrauisch sind, was mich angeht. Burnett beispielsweise wird ganz bestimmt keine direkt von mir ausgesprochene Einladung annehmen. Andererseits war er Olivias Hausarzt und hat von ihrem Testament profitiert, und Rory Armitage war bei ihm, als seine Frau Ernies Kopf fand. Ich möchte, dass er die Geschichte ebenfalls hört. Also muss die Einladung von Wynne kommen – falls sie nichts dagegen hat, heißt das.«

»Bestimmt nicht«, hatte Meredith geantwortet.

»Sie ist selbst halb verrückt vor Neugier, alles zu erfahren.« Und so saßen sie nun alle hier, Rory Armitage und seine Frau, Meredith, Alan, Wynne und Tom Burnett. Mrs Burnett war ebenfalls eingeladen, doch sie hatte abgesagt, weil eines ihrer Kinder zahnte. Max Crombie, ebenfalls eingeladen, war der zweite Abwesende.

»Hab einen dringenden Auftrag«, hatte seine Ausrede gelautet. Zwei Tage Regen hatten die Luft gereinigt. Die Wolken hatten sich verzogen, und die Sonne war zurückgekehrt, ein wenig blasser und schwächer als zuvor, doch immer noch angenehm und freundlich. Sie schien durch das Fenster, und Nimrod aalte sich auf dem Sims in ihren wärmenden Strahlen, die Vorderpfoten unter den Leib gezogen und die Hinterbeine zur Seite ausgestreckt. Er spitzte sein unbeschädigtes Ohr und lauschte auf interessante Geräusche im Haus, während seine Augen die Welt draußen vor dem Fenster beobachteten. Von Zeit zu Zeit peitschte sein verstümmelter Schwanz auf der Decke hin und her, wenn ein Hund, ein Vogel oder ein verhasster anderer Kater sein Sichtfeld durchquerte. Wynne hatte ihren selbst gemachten Wein aufgetischt, und sie hatten mehr als einmal davon gekostet und ihn – ebenfalls mehr als einmal – mit dem Prädikat

»köstlich« ausgezeichnet. Unter dem Einfluss des Alkohols hatten sie sich schließlich entspannt zurückgelehnt und angefangen, über die Ereignisse der vergangenen Zeit zu sprechen, insbesondere das plötzliche und unerwartete Ende der ganzen Angelegenheit.

»Kevin, der arme Junge, war bereits in blinder Panik, bevor Sadie aufgetaucht ist. Er wäre vor Angst beinahe gestorben. Sie sah ziemlich gewöhnlich aus, kein bisschen wie eine Hexe, wirklich nicht. Eher wie eine Hochseefischerin, mit all dem gelben Ölzeug am Leib!«, erinnerte sich Meredith. Sie dachte kurz nach.

»Trotzdem, sie hat auch mir einen Schreck eingejagt, für einige Minuten wenigstens, weil ich keine Ahnung hatte, dass sie hinter mir stand. Der arme Kevin hat fast den Verstand verloren. Er hat wirklich geglaubt, sie würde magische Kräfte besitzen. Seine Nerven lagen blank. Wie ich das sehe, wich er einen Schritt zurück und drehte sich um, weil er davonlaufen wollte. Er hatte vergessen, wie dicht er vor dem Stehenden Mann war, und rannte mit der Schulter gegen den Stein. Für Kevin in seiner Angst und seiner Verwirrung muss es gewesen sein, als hätte sich der Stein bewegt und ihm den Weg verstellt. Er zuckte zusammen, wie man das tut, wenn man glaubt, allein zu sein, und jemand klopft einem unerwartet auf die Schulter. Dabei stolperte er und fiel hin, und das ist alles. Er lag einfach nur noch da und schluchzte und zitterte. Sadie nahm das Gewehr an sich, und ich half Kevin auf die Füße und brachte ihn zu meinem Wagen. Nichts auf der Welt hätte ihn dazu gebracht, bei Sadie einzusteigen. Der arme Junge murmelte den ganzen Rückweg etwas von dem Stein, der sich bewegt hätte, und dass er wirklich keinen Schaden an dem heiligen Monument hatte anrichten wollen.«

»Der arme Junge?«, grollte Markby.

»Er hätte dir den Kopf von den Schultern schießen können!« Meredith nahm es philosophisch.

»Hat er aber nicht, oder? Warum zerbrichst du dir im Nachhinein darüber den Kopf? Unglücklicherweise traf die Ladung den anderen Stein, die Stehende Frau, und schlug ein paar Splitter heraus. Sadie ist deswegen schrecklich aufgebracht, und ich kann mir gut vorstellen, dass die Englische Denkmalschutzkommission nicht sehr begeistert reagieren wird, wenn sie davon erfährt.«

»Wieso ist Sadie Warren zu dem Monument gefahren?«, fragte Gill Armitage.

»Ich empfand die Frau immer als abstoßend. Ihre Augen sehen immer ganz entrückt aus, als wäre sie meilenweit entfernt und würde mit irgendeiner Macht in Verbindung stehen, die keiner von uns Normalsterblichen sehen kann. Als würde sie ständig … na ja, irgendwelche Nachrichten von Geistern erhalten.«

»Ganz genau!«, stimmte Meredith ihr zu.

»Und Sadie besteht darauf, dass es genau das war. Eine Art spiritueller Nachricht, die die Steine ihr geschickt hatten, weil sie in Gefahr waren. Wie sich herausgestellt hatte, waren sie das tatsächlich. Sadie jedenfalls sagt, sie wäre sofort in den Wagen gesprungen und so schnell wie möglich hierher gefahren, um die heilige Stätte zu schützen. Das ist jedenfalls ihre Geschichte, und sie weicht keinen Millimeter davon ab. In Wahrheit ist sie vielleicht rein zufällig dorthin gefahren, um irgendein Ritual durchzuführen, und dabei über Kevin und mich gestolpert. Aber falls es so ist, so gibt sie es nicht zu. Von mir aus mag sie bei ihrer Version bleiben. Sie funktioniert definitiv auf einer anderen Ebene als wir anderen. Möglicherweise bildet sie sich alles ein, aber wie heißt es doch so schön: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir uns träumen lassen.«

»Unsinn«, sagte der ungläubige Alan wenig beeindruckt.

»Die Frau hat eine richtige Kunstform daraus gemacht, wenn du meine Meinung hören willst. Aber es ist und bleibt Hokuspokus.«

»Meiner Meinung nach kann sie glauben, was sie will«, sagte Gill Armitage.

»Wenn tatsächlich unbekannte Mächte am Werk sind, die vor unseren Augen verborgen sind, dann habe ich absolut nichts dagegen, weiter in Unwissenheit zu leben. Man sollte sich nicht in Dinge einmischen, von denen man nichts versteht.«

»Absolut!«, stimmte Tom Burnett ihr zu.

»Die Auswirkungen dieser Dinge auf schwache Gemüter können katastrophal sein. Ich weiß von verbürgten Fällen, wo Menschen in eigenartige Kulte gerieten und den Verstand verloren haben. Ich hätte im Übrigen nichts gegen einen weiteren Schluck von Ihrem Selbstgemachten, Wynne. Dieses Zeug ist wirklich allererster Güte!«

»Nun, dann probieren Sie doch diesen Pfirsichlikör«, antwortete Wynne und öffnete eine neue Flasche.

»Den habe ich noch nie vorher gemacht, und ich würde gerne Ihre Meinung hören.« Alle meldeten sich gerne freiwillig zum Kosten, und Gläser wurden ausgestreckt und neu gefüllt. Das Übernatürliche als Gesprächsthema war beendet, und Wynnes Gäste murmelten Anerkennung für ihren Pfirsichlikör.

»Oh, wundervoll! Sie müssen mir unbedingt verraten, wie Sie den gemacht haben!«, sagte Gill.

»Um ehrlich zu sein, eine Spur zu süß für meinen Geschmack, aber sehr aromatisch«, sagte Alan.

»Mensch, dieser Stoff hat es vielleicht in sich!«, sagte Rory.

»Der arme Kevin«, wandte sich Wynne wieder dem anfänglichen Thema der Unterhaltung zu.

»Er hat völlig Recht mit allem, was er zu Ihnen gesagt hat, Meredith. Wir wussten alle, dass Ernie ihn gehalten hat wie einen Hund.«

»Ich nicht«, widersprach Tom Burnett sogleich.

»Das kommt daher, dass Sie noch nicht so lange in Parsloe St. John sind und nichts mit den Berrys zu tun hatten.« Rory leerte sein Glas auf einen Zug.

»Aber Wynne hat Recht. Nicht, dass ich gewusst hätte, wie schlimm es in Kevins Kindheit gewesen ist. Ich hatte nichts mit den Berrys zu schaffen, als er noch klein war. Aber vermutlich ist das nur eine Ausrede, weil ich mit ein wenig Nachdenken durchaus darauf hätte kommen können, dass Ernie den Jungen schon seit vielen Jahren misshandelt hat, wenn er Kevin selbst mit neunzehn Jahren noch regelmäßig verprügelte. Und es war nicht zu übersehen, dass er das tat. Kevin hatte ständig ein blau geschlagenes Auge oder eine aufgesprungene Lippe oder sonst eine Blessur, wenn er im Dorf herumlief. Und Ernie konnte man ansehen, dass er ein Schläger war, ein mieser Typ. Ich mochte den Burschen von Anfang an nicht. Was Kevin angeht, so glaube ich, er hat dem ganzen Dorf auf dem Gewissen gelegen. Viele Leute fühlten sich deswegen unwohl, wenn sie ihm auf der Straße begegnet sind. Die Art und Weise, wie er immer nur ›Ernies Junge‹ gerufen wurde und nie bei seinem eigenen Namen. Es nahm ihm seine Würde, machte ihn weniger zu einem Individuum und seine Not zu ignorieren weniger zu einem Verbrechen. ›Berrys Junge‹, das war genau das Gleiche wie ›Berrys Wagen‹ oder ›Berrys Sonstwas‹. Es half den Dorfbewohnern, mit ihrem schlechten Gewissen ins Reine zu kommen.« Rory starrte in sein Glas.

»Ich habe mich damit getröstet, dass ich mir immer wieder sagte, wenn er unglücklich ist, warum zur Hölle packt er dann nicht seine Sachen und geht? Er war schließlich alt genug dazu.«

»Das konnte er nicht«, widersprach Tom Burnett entschieden.

»Ein Mensch, der sein ganzes Leben lang so misshandelt wurde, kann sich nicht ohne weiteres von seinem Peiniger befreien. Sein Selbstbewusstsein ist völlig zerstört. Ständige Misshandlung wird zu einer Gewohnheit – der Misshandelte wird vollkommen abhängig von seinem Quälgeist. Meist ist eine einschneidende Veränderung der äußeren Umstände erforderlich, um einen chronisch Misshandelten in die Rebellion zu treiben. Als der Junge seinen Peiniger tot vorfand, entlud sich all der aufgestaute Hass des Jungen und sein Verlangen nach Rache. Doch wenn das nicht geschehen wäre, hätte es keinen Grund gegeben, warum es nicht endlos so hätte weitergehen sollen.«

»Durchaus richtig.« Rory Armitage seufzte zustimmend.

»Kevin konnte nicht von Ernie weggehen, nicht einmal dann, als Olivia ihm genügend Geld hinterließ, um einen Neuanfang zu machen. Glauben Sie, dass Olivia dies bezweckt hat? Dass sie Kevin eine Chance geben wollte, sich zu lösen? Falls ja, hat sie sich verrechnet. Ernie musste nichts weiter tun, als das Geld von Kevin zu verlangen, und der Junge gab es heraus, voller Hass im Herzen, aber machtlos, Ernie zu widerstehen. Der arme kleine Mistkerl hat meinen Wagen ruiniert, und ich kann ihm deswegen nicht einmal böse sein. Er hat uns alle gehasst und hatte guten Grund dazu.«

»Nicht Olivia«, widersprach Wynne entschieden.

»Er hätte das mit ihrem Pony nicht tun dürfen. Ich hoffe nur, es stimmt, dass er sie nicht die Treppe hinuntergestoßen hat.« Sie blickte verstohlen zu Markby, und ihr Gesichtsausdruck flehte ihn an, etwas zu Kevins Entlastung zu sagen.

»Er sagt, er wäre es nicht gewesen«, räumte Markby ein.

»Niemand kann etwas anderes beweisen. Ich persönlich glaube übrigens nicht, dass er es war.« Wynne blickte erleichtert drein, doch Markby brachte sie gleich wieder außer Fassung, indem er fortfuhr:

»Was Janine angeht, so hatte sie möglicherweise ein Motiv – falls sie von dem kleinen Erbe wusste, das Olivia ihr in ihrem Testament vermacht hatte. Doch das ist weit hergeholt und schwierig zu beweisen.«

»Bestimmt nicht!«, protestierte Wynne.

»Es war so wenig Geld, und ihre Stelle als Haushälterin war viel mehr wert!« Sie schüttelte den Kopf, und eine Haarnadel fiel aus ihrem Chignon und landete klappernd auf dem Tisch.

»Aber wer hätte es andererseits für möglich gehalten, dass sie Ernie umgebracht hat?« Ringsum erhob sich zustimmendes Gemurmel. Markby nickte.

»Oh, sie hat Berry umgebracht, daran besteht kein Zweifel. Die Polizei hatte keine Probleme, ihre Geschichte von dem Exfreund zu knacken, der ihr angeblich das blaue Auge geschlagen hatte. Sie durchsuchte ihre Wohnung und fand das Messer, mit dem sie Berry die Kehle durchschnitten hatte, in ihrer Küchenschublade. Sie hatte es gründlich abgewaschen, doch es gibt einen schmalen Spalt, wo die Klinge im Griff verschwindet. Blut war in diesen Spalt geraten, und sie hat es übersehen … Was das Wie und Warum angeht …« Markby zuckte die Schultern.

»Janine brauchte Geld. Sie arbeitete für Olivia und hat andere Gelegenheitsjobs angenommen, doch in einem Dorf wie Parsloe St. John bieten sich nicht so viele Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Natürlich gibt es in jeder Gemeinde immer einen bestimmten Weg … und ohne Zweifel war Janine die Dorfhure. Ernie war einer ihrer Stammkunden. Angebot und Nachfrage regeln den Markt, genau wie in jedem anderen Geschäft. Parsloe St. John ist nicht der Nabel der Welt, und Janines Preise waren demzufolge bescheiden. Doch das so verdiente Geld half ihr zu überleben. Übrigens war Berry nicht, wie Meredith eine Weile geglaubt hat und viele andere vielleicht immer noch glauben, der Vater von Janines Kindern. Ich möchte das noch einmal betonen. Wir haben den Vater ausfindig gemacht. Er wohnt dreihundert Kilometer entfernt. Er hat die Kinder nicht gesehen, seit sie Säuglinge waren. Janine bekam von ihm keinerlei Unterhalt für die Kinder. Sie hatte keine andere Wahl, als zu tun, was immer in ihren Kräften stand, um die beiden Jungs durchzubringen. Und dann starb Olivia. Ich stimme zu, dass Janine keinen Grund hatte, Olivia zu schaden, selbst wenn sie von dem Testament wusste. Olivia Smeatons Tod war ein schwerer Schlag für sie. Sie verlor eine sichere Arbeitsstelle. Olivia hatte ihr zweihundert Pfund vermacht – doch sie hatte auch Ernie und Kevin jeweils zweihundert Pfund hinterlassen. Prompt nahm Ernie Kevins Geld an sich. Er hatte eine neue Freundin drüben in Long Wickham, wie Kevin wusste, und verprasste den größten Teil der Erbschaft, indem er sich mit dieser Freundin eine schöne Zeit machte. Er hatte vergessen, dass Janine ursprünglich aus Long Wickham kommt. Ihre Mutter lebt noch immer dort und hat Janine regelmäßig über alles informiert, was dort vorging. Sie erfuhr, dass Ernie eine Frau besuchte und mit ihr zusammen Geld in den Pubs ausgab oder mit ihr zum Einkaufen in die Stadt fuhr. Die fragliche Dame spazierte in neuen Kleidern und mit billigem Schmuck durch die Gegend. Janine war außer sich. Als Ernie kein Geld gehabt hatte, war er zu ihr gekommen, um sich abzureagieren, und hatte ihr wenig genug bezahlt. Nun besaß er Geld, und wie Janine die Sache sah, hätte er es mit ihr zusammen ausgeben müssen. Die Frau aus Long Wickham konnte nichts für Ernie tun, was Janine nicht ebenfalls gekonnt hätte. Sie fühlte sich von Ernie betrogen, weil er sein Geld mit und bei einer anderen ausgab. Mehr noch, es verletzte ihren Stolz. Durch sein Verhalten machte er deutlich, dass Janine nur dann in Frage kam, wenn jemand es ganz dringend nötig hatte und pleite war! Ich wage zu behaupten, dass keine Frau es mag, wenn man sie für billig hält.«

»Das ist gefährliches Eis, auf das Sie sich begeben, alter Freund«, warnte Rory Armitage.

»Hey!«, sagte seine Frau.

»An jenem schicksalhaften Tag«, fuhr Markby hastig fort, »war Janine früh am Morgen nach Rookery House gegangen, um die Läden zu öffnen und ein wenig frische Luft ins Haus zu lassen, als sie von einem Fenster im ersten Stock sah, wie Ernie die Koppel überquerte. Er hatte aus dem Vollen gelebt mit seiner neuen Flamme, hatte einen Kater und war müde. Er suchte einen stillen, ungestörten Fleck und legte sich auf ein Nickerchen unter den Kastanienbaum auf Olivias Koppel. Janine stürmte nach draußen, voller Groll, und verschaffte ihrem Zorn in einer Schimpftirade Luft. Ernie war kein Mann, der bei einem Streit viele Worte machte. Er schlug zu und erwischte Janine am Auge. Janine flüchtete nach Hause. Ihre Wut war noch größer als zuvor, und sie dürstete nach Rache. Gegen Mittag kehrte sie nach Rookery House zurück, um, wie sie sagt, die Fenster wieder zu schließen. Sie fürchtete, dass Ernie noch immer auf dem Grundstück herumlungern könnte, und um sich zu schützen – so ihre Version – nahm sie ein scharfes Küchenmesser mit. Sie schlich zur Koppel, um nach Ernie zu sehen, und tatsächlich, er schlief noch immer tief und fest unter dem Baum. ›Er schlief wie ein Toter‹, hat sie bei ihrer Vernehmung ganz treffend gesagt. Sie sagt, sie hätte nicht gewusst, was über sie gekommen wäre. Sie hätte das Messer gezückt und …« Markby verstummte.

»Uff!«, sagte Wynne, und Armitage murmelte:

»Die Frau ist verrückt. Hat sie denn nicht an ihre Kinder gedacht?«

»Sie hat wohl nicht geglaubt, dass man sie überführen und vor Gericht bringen würde. Das glauben Mörder nie.« Markby lächelte trocken.

»Tatsächlich wäre sie vielleicht sogar durchgekommen, doch als sie nach dem Mord an Ernie Rookery House betrat, um die Fensterläden zu schließen – was ja der eigentliche Grund für ihre Rückkehr gewesen war –, sah sie Kevin kommen. Sie rannte weg und versteckte sich. Sie sah, dass Kevin zur Koppel ging. Er suchte nach Ernie, und er wusste, dass der Platz unter dem Kastanienbaum einer von Ernies Lieblingsplätzen war. Janine rannte in Panik nach Hause und ließ die Fenster offen. Kevin entdeckte den toten Ernie, und wir wissen, was er danach tat.«

»Ja«, sagte Gill Armitage gepresst.

»Es ist vorbei, Liebes, keine Angst.« Rory tätschelte seiner Frau den Arm.

»Vielleicht hat die Halswunde Kevin überhaupt erst auf die Idee gebracht«, sinnierte Markby.

»Oder er erinnerte sich an das Kneipenschild vom King’s Head Pub und assoziierte es mit Ernie.«

»Tod allen Tyrannen!«, deklamierte Rory unvermittelt.

»Vielleicht war es das, was dem Jungen durch das verdrehte Gehirn ging«, fügte er ein wenig sanfter hinzu.

»Vielleicht. Jedenfalls, die Schnitte des größeren Messers verbargen die des kleineren. Die Obduktion identifizierte ein großes, schweres Messer als Tatwaffe. Da Ernie höchstens zwanzig oder dreißig Minuten nach Janines tödlichem Überfall enthauptet wurde – vergessen Sie nicht, sie sah Kevin kommen –, fiel es nicht auf, dass die eigentliche Todesursache nicht die Enthauptung war. Die untersuchenden Pathologen hatten keinerlei Veranlassung zu glauben, dass jemand anderes als der Mörder Ernie enthauptet haben könnte. Sie nahmen an, dass der Täter ursprünglich vorgehabt hatte, den Leichnam in Stücke zu zerlegen, und seinen Plan aufgegeben hatte, nachdem der Kopf abgetrennt war. Man fand eine breite, schwere Klinge, passend zu den Wunden, mit Spuren von Ernies Blut darauf. Niemand suchte nach einer weiteren Tatwaffe. Warum sollte man auch?« Er hätte hinzufügen können, dass der Übereifer seitens Inspector Cranes, die Waffe unbedingt zu finden und zu identifizieren, vermutlich zu der Fehleinschätzung beigetragen hatte, doch er schwieg. Angesichts der ungeduldig neben ihm stehenden Ermittlungsleiterin, die ihn drängte, zu bestätigen, dass die Machetenklinge zu den Wunden an Kopf und Rumpf und den durchtrennten Wirbeln passte, hatte der Pathologe nicht weiter gesucht. Hatte das Labor denn das Blut nicht bereits als das von Ernie identifiziert? Markby dachte kurz an eine Unterhaltung zurück, die er am Vortag mit Crane geführt hatte. Sie war verlegen und wütend auf sich selbst gewesen wegen ihrer eigenen Inkompetenz. Markby hatte sich vergeblich bemüht, ihr zu versichern, dass jeder Fehler beging und das eigentlich Wichtige war, aus ihnen zu lernen. Mit vor Leidenschaft weißem Gesicht hatte sie ihm gestanden, dass sie etwas getan hatte, was sie sich niemals zu tun geschworen hatte: Sie hatte sich auf eine einzige Theorie versteift und jede mögliche Alternative ignoriert. Da sie nicht in der Stimmung war, seinen Trost anzunehmen, hatte er sie schließlich allein gelassen. Sie würde darüber hinwegkommen – oder auch nicht, je nachdem. Er hoffte, dass sie es schaffte. Sie war eine gute Ermittlerin, die alles Nötige mitbrachte, um es zu einer hervorragenden Ermittlerin zu bringen. Doch der Lernprozess konnte schmerzhaft werden. In Wynnes Wohnzimmer war Schweigen eingekehrt. Unvermittelt erhob sich Nimrod auf die Pfoten und streckte sich ausgiebig. Dann drehte er sich einmal um die eigene Achse und legte sich wieder hin. Niemand hatte ihm je wegen Fehlverhaltens einen Vorwurf gemacht, obwohl er ganz gewiss zahllose Vögel und kleinere Säugetiere auf dem Gewissen hatte. Menschen hatten nichts dagegen, wenn er Mäuse jagte, doch sie waren manchmal verwirrend sentimental, was Kreaturen mit Federn anging

»Was wird aus Bruce und Ricky?«, fragte Wynne.

»Sie sind nicht gerade ausgesprochene Musterknaben, aber das ist wirklich das Schrecklichste, was den beiden passieren konnte.«

»Janines Mutter hat sie zu sich nach Long Wickham genommen. Sie ist noch recht jung und sehr wohl imstande, die beiden zu versorgen.« Markby lächelte.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Wynne.«

»Ich wollte mich nicht freiwillig melden, keine Angst …«, sagte Wynne schwach.

»Doch nach der Geschichte mit Kevin habe ich das Gefühl, dass ich die Augen kein zweites Mal abwenden darf.« Sie drehte sich zu Meredith um.

»Dann hatten Sie also von Anfang an Recht, meine Liebe. Sie haben gesagt, wahrscheinlich würde sich herausstellen, dass alles mit Olivias Erbe in Zusammenhang steht, und so war es auch. Janine und Kevin hegten beide einen Groll gegen Ernie, Janine, weil er sein Erbteil nicht mit ihr durchbrachte, und Kevin, weil Ernie ihm sein Erbteil weggenommen hatte. Olivia hat es doch nur gut gemeint, indem sie ihrer Haushälterin und ihren beiden Gärtnern Geld vermacht hat.«

»Ich denke, Olivia war keine besonders intelligente Frau«, sagte Meredith langsam.

»Sie hätte Janine doppelt so viel hinterlassen müssen wie den beiden Berrys. Sie hatte es ohne jeden Zweifel verdient, so, wie sie in diesem Haus gearbeitet hat. Sie hat für Olivia gekocht, hat Besorgungen erledigt und alles Mögliche. Hätte Janine ein klein wenig mehr geerbt als die Berrys, hätte sie sich nicht sosehr den Kopf darüber zerbrochen, was Ernie mit seinem Geld anstellt.« Draußen vor dem Cottage hielt ein Wagen. Türen wurden geschlagen, und Männerstimmen näherten sich. Markby erhob sich.

»Sie haben Recht, Wynne, alles, was geschehen ist, steht mit Testamenten in Verbindung. Nicht mit einem, sondern genau genommen mit zweien.«

»Zwei?« Wynne starrte Markby verwirrt an.

»Zwei, und beide stammen aus der Feder von Olivia Smeaton.« Die Türglocke läutete.

»Und hier kommt jemand«, fuhr er fort, »der uns das alles erklären kann, wenn ich mich nicht irre. Ich mache auf, einverstanden?«

Die Ankunft von Sir Basil und Lawrence Smeaton verursachte ein kleineres Durcheinander. Die Gastgeberin hatte keine Sitzgelegenheiten mehr, und zwei Stühle aus dem Nachbarcottage wurden herbeigeschafft. Wynne grub ihre Reserven an selbst gemachten Weinen aus dem hintersten Teil ihrer Kammer aus und staubte die Flaschen ab, und ihre Sorge war nicht zu übersehen, dass es nicht reichen könnte. Wie die meisten Menschen, die selbst Wein machten, neigte auch sie dazu, weit mehr herzustellen, als sie allein konsumieren konnte. Doch der Ansturm so vieler Besucher hatte ihre Vorräte tatsächlich schwinden lassen.

Schließlich hatten alle einen Platz gefunden, und erwartungsvolle Gesichter drehten sich den Neuankömmlingen entgegen.

Lawrence Smeaton räusperte sich und zog einen braunen Briefumschlag aus der Innentasche seines Tweedjacketts. Einigermaßen verlegen, begann er zu sprechen.

»Ich hoffe, dies erweist sich nicht als Windei. Ich bin genauso sehr wie jeder andere der hier Anwesenden an einer Aufklärung interessiert – mehr noch sogar, da es bei mir um eine Familienangehörige geht.«

»Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, den ganzen weiten Weg herzukommen, um mit uns zu sprechen«, sagte Meredith.

Lawrence öffnete den Umschlag.

»Sie werden verstehen, dass ich keine Fotos von Olivia aufbewahrt habe. Allerdings besitze ich die Bilder, die bei der Hochzeit meines Bruders gemacht wurden. Sie zeigen die gesamte Hochzeitsgesellschaft und natürlich auch Olivia. Vielleicht würden Sie … vielleicht würden Sie einen Blick darauf werfen?«

Das kleine Bündel Schwarzweißaufnahmen ging im Kreis herum, angefangen bei Rory Armitage, nachdem Sir Basil abgewinkt hatte. Rory betrachtete die Aufnahmen und murmelte leise vor sich hin, während er ein Bild näher untersuchte. Er warf einen zweiten Blick auf die anderen Fotos, die er bereits gesehen hatte, und reichte schließlich den ganzen Stapel kommentarlos an seine Frau Gill weiter. Gill sah ihn mehrmals an, während sie die Bilder studierte, dann reichte sie die Fotos schweigend an Tom Burnett. Er hob die Augenbrauen, während er sie betrachtete, und gab sie schließlich Meredith. Sie nahm sie mit unverhohlener Neugier entgegen.

Es ist immer ein wenig traurig, sehr alte Fotos zu betrachten. Die Menschen darauf sind entweder alt geworden oder bereits gestorben, und ihre Welt ist längst vergangen. Die Bilder, die Meredith nun vor sich sah, waren typische Aufnahmen aus der Kriegszeit. Alle Männer trugen Uniformen. Das Brautkleid reichte bis knapp unter die Knie der Braut, besaß wuchtig gepolsterte Schultern, und das Oberteil war durch deutlich sichtbare Abnäher in Form gebracht. Das Material sah aus wie Crêpe Georgette. Auf dem Busen haftete ein Ansteckstrauß mit Maiglöckchen. Die modischen offenen Schuhe sahen nach Wildleder aus, und der kleine Hut auf dem Kopf war ein wenig in die Stirn gedrückt und besaß einen Schleier. Die Brautjungfer trug einen streng geschnittenen Anzug, den gleichen Ansteckstrauß und einen Hut, der aussah wie ein umgedrehter Blumentopf. Alle lachten mehr oder weniger gestresst, und die Brautjungfer sah verängstigt aus. Meredith identifizierte einen missmutig dreinblickenden Offizier als den jüngeren, stämmigen Lawrence Smeaton. Sein Gesichtsausdruck konnte auch nichts weiter bedeuten, als dass die Sonne ihn blendete. Marcus, der Bräutigam, war größer als sein Bruder, schlanker und wirkte durchgeistigter als sein bulldoggenartiger Bruder. Er allein lächelte zuversichtlich in die Kamera.

Zum ersten Mal kam Meredith der Gedanke, dass Marcus im Krieg vielleicht beim Nachrichtendienst gewesen war. Lawrence hingegen schien ein Frontoffizier gewesen zu sein. Im Kindesalter waren ihre traditionellen Rollen, nach denen der ältere Bruder den jüngeren beschützt, möglicherweise vertauscht gewesen. Lawrence, der jüngere, aus sich herausgehende, sportliche Junge hatte möglicherweise den älteren, bücherversessenen, weltfremden Marcus behütet. Falls dem so war, so hatte Lawrence Smeaton diese Rolle nach dem Tod des Bruders wieder eingenommen und wie ein Löwe um seinen guten Ruf gekämpft, koste es, was es wolle.

Meredith reichte die Bilder Wynne, die als Letzte von allen an der Reihe war und sie nun vor sich auf dem Wohnzimmertisch ausbreitete.

Sie warteten.

»Ah, ja«, sagte Wynne nach einer Weile.

»Das ist Olivia, ganz bestimmt. Meinen Sie nicht auch, Rory? Gill? Tom?«

Die drei Angesprochenen nickten. Die beiden Männer blickten unbehaglich drein. Gill Armitage errötete, und ihre dunklen Augen funkelten vor mühsam unterdrückter Aufregung.

Wynne streckte die Hand aus.

»Dann sind wir alle einer Meinung. Diese Person hier auf dem Bild – wir kannten sie zwar nur als alte Dame, aber wir sind trotzdem sicher –, das ist die Olivia Smeaton, die wir in Parsloe St. John gekannt haben.«

Und mit diesen Worten tippte sie auf das Bild und die Brautjungfer Violet Dawson.

 

Ihr Wille geschehe

KAPITEL 24

»GENAU WIE Meredith kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, was geschehen ist«, sagte Markby.

»Ich kann Ihnen verraten, wie es sich meiner Meinung nach zugetragen hat. Mit Ihrer Erlaubnis, Brigadier?«

Sie warteten auf Lawrence Smeatons Antwort. Smeaton hatte die Fotografien wieder eingesammelt und in den Umschlag zurückgesteckt. Er stopfte den Umschlag in seine Innentasche, begegnete Markbys fragendem Blick und nickte.

»Schießen Sie los. Bringen Sie alles ans Licht. Klären wir die verdammte Angelegenheit ein für alle Mal.« Er klang müde, doch entschlossen.

Sir Basil bedachte seinen alten Freund mit einem interessierten Blick, lehnte sich in seinem Sessel zurück, neben sich auf dem Tisch eine Flasche Pflaumenwein, und begnügte sich mit der Rolle des Beobachters.

»Also schön, ich sehe die Sache so«, begann Markby.

»Zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung verfassten Marcus und Olivia ihre Testamente, in denen jeder alles dem jeweils Überlebenden vermachte. Einfache, geradlinige Dokumente, die in wirren Zeiten abgefasst worden waren, mit einem Minimum an Einzelheiten, als Versicherung gegen die Unwägbarkeiten des Krieges und das Risiko, dass einer von beiden fallen würde. Leider fiel tatsächlich einer der beiden, nämlich Marcus. Er wurde nur wenige Monate nach der Hochzeit getötet und ließ Olivia als Witwe zurück. Doch sie war nicht allein. Ihre alte Schulfreundin Violet Dawson hatte von Anfang an mit ihnen gemeinsam unter einem Dach gelebt. Vielleicht ein wenig ungewöhnlich für ein frisch verheiratetes Paar, doch vergessen Sie nicht, es herrschte Krieg. Viele Leute waren ausgebombt und kamen bei Verwandten oder Nachbarn unter. Der gemeinsame Haushalt machte auch unter dem Aspekt der strengen Lebensmittelrationierung jener Tage Sinn.«

Markby sah Lawrence an.

»Es gibt andere Arten von gegenseitiger Anziehung zwischen Mann und Frau als die rein geschlechtliche, Brigadier, und falls es Sie tröstet, so denke ich, dass Olivia Ihren Bruder tatsächlich geliebt hat, selbst wenn ihre sexuellen Vorlieben woanders lagen. Sie war, wie verlautet, sehr betrübt über seinen Tod. Wir wissen nicht, warum sie nicht auf der Stelle ein neues Testament verfasst hat. Vielleicht wegen ihrer Trauer. Vielleicht, weil es nach dem Ende der Feindseligkeiten nicht mehr so dringlich erschien. Sie war immer noch eine junge Frau, vergessen Sie das nicht. Behrens, ihr späterer Anwalt und heutiger Nachlassverwalter, war außerstande, ein weiteres Testament aufzuspüren. Jedenfalls, fünfzehn Jahre nach dem Tod von Marcus Smeaton erscheint bei ihm eine Frau, die sich als Olivia Smeaton ausgibt, und bittet ihn, das Testament aufzusetzen, von dem wir heute alle wissen. Es erscheint daher plausibel, dass es zwischen diesem Testament und jenem aus Kriegszeiten kein anderes gegeben hat, und das neuere ersetzte das alte, das durch den Lauf der Ereignisse gegenstandslos geworden war. In der Zeit zwischen dem Tod ihres Mannes und dem neuen Testament, das Behrens für sie verfasste, war Olivia praktisch testamentslos. Diese Tatsache ist von entscheidender Bedeutung.« Markby legte eine Kunstpause ein.

»Erzählen Sie weiter!«, drängte Wynne.

»Ein Grund, warum die echte Olivia Smeaton die Regelung ihres Nachlasses so lange hinauszögerte, mag die Tatsache gewesen sein, dass sie mit ihrer Freundin und Lebensgefährtin Violet Dawson nach Frankreich zog, wo andere Gesetze bezüglich der Erbregelung gelten als hier in England. Violet besaß kein eigenes Geld, doch Olivia bezahlte sämtliche Ausgaben, und sie lebten sehr komfortabel. Bevor sie zu Olivia gezogen war, hatte Violet eine elende Existenz als bezahlte Begleiterin zahlreicher unsympathischer Auftraggeber gefristet. Sie besaß keine Ausbildung für irgendeine andere Arbeit. Nach ein paar Jahren in Frankreich beschlossen die beiden Frauen, nach England zurückzukehren. Sie machten sich auf den Weg, und die Reise quer durch Frankreich endete mit einem schrecklichen Unfall. Die Nachforschungen zu jener Zeit ergaben, dass Violet hinter dem Steuer gesessen hatte. Ich bezweifle das. Nach allem, was wir über Olivia wissen, kann ich mir kaum vorstellen, dass sie sich zufrieden zurücklehnte und von jemand anderem chauffieren ließ. Außerdem besteht im Hinblick auf die darauf folgenden Ereignisse Grund zu der Annahme, dass Violet überhaupt nicht imstande war, ein Auto zu fahren. Ich glaube, Olivia fuhr den Wagen in jenem fatalen Augenblick, und Violet war die Beifahrerin. Der Wagen war völlig zerstört, die Fahrerin ums Leben gekommen, und es herrschte beträchtliche Verwirrung. Das war lange vor der Zeit der Sicherheitsgurte. Vielleicht wurde Olivia aus dem Wagen geschleudert. Vielleicht hat die Beifahrerin, Violet also, ihre Freundin aus dem Wrack gezerrt, um erste Hilfe zu leisten, oder weil sie befürchtete, der Wagen könnte in Brand geraten oder gar explodieren, ohne anfänglich zu begreifen, dass Olivia bereits tot war. Die französische Polizei traf am Unfallort ein und fand die beiden Frauen neben der Straße, eine tot, die andere hysterisch. Sobald die Überlebende sich weit genug gefasst hatte, wurde sie gebeten, sich und die Tote zu identifizieren, und die Beamten wollten wissen, wer am Steuer gesessen hatte. Violet Dawson stand immer noch unter Schock, doch sie hatte genügend Zeit gehabt, um sich bewusst zu machen, dass Olivias Tod für sie die Rückkehr in die Armut bedeutete. Vielleicht hatte Olivia beabsichtigt, gleich nach ihrer Rückkehr nach England ein Testament zu verfassen. Wir wissen es nicht. Doch Violet wusste, dass das einzige damals existierende Testament jenes aus Kriegszeiten war, in dem Marcus als Alleinerbe aufgeführt wurde und das längst veraltet war. Unter diesen Umständen, wenn jemand stirbt, ohne ein gültiges Testament zu hinterlassen, und wenn er allein stehend war, nicht verheiratet und kinderlos, unternimmt der Staat jede nur denkbare Anstrengung, um Blutsverwandte aufzuspüren. Das Vermögen wird dann gemäß den geltenden Vorschriften unter ihnen aufgeteilt. Falls die Suche nach Verwandten ergebnislos bleibt, fällt das Vermögen an die Krone. Violet war keine Blutsverwandte und glaubte, dass sie keinen Anspruch auf Olivias Vermögen hatte. Sie wusste auch, dass Olivia keine Blutsverwandten besaß, also würde sie niemanden um sein Erbe betrügen, wie sie es sah, wenn sie der französischen Polizei erzählte, dass sie Olivia Smeaton wäre – und die Tote Violet Dawson. Vergessen Sie nicht, inzwischen waren Jahre ins Land gezogen. Die beiden Frauen waren älter geworden und beide in jüngeren Jahren sehr attraktiv gewesen. Nachdem sie so lange zusammengelebt hatten, waren sie sich wahrscheinlich auch äußerlich ähnlicher geworden, hatten sich gleich gekleidet, die gleichen Haarschnitte, die gleichen Eigenarten, das gleiche Benehmen – ein unbeteiligter Betrachter hätte sie wahrscheinlich eher für Schwestern als für Freundinnen gehalten. Die tote Fahrerin – Olivia – hatte mit ziemlicher Sicherheit schwere Gesichtsverletzungen. Es war nicht weiter schwierig für Violet, die Identität zu vertauschen. Bei ihrer Rückkehr nach England wagte sie allerdings nicht, in London zu leben, wo sie zufällig alten Bekannten begegnen konnte – genauso wenig, wie sie in ihre Geburtsstadt zurückkehren durfte, wo die älteren Menschen sich vielleicht an die junge Violet Dawson erinnern würden. Sie suchte also neutrales Territorium, und das abgeschiedene Dorf Parsloe St. John war gerade richtig. Dieses Dorf besaß eine zusätzliche Attraktion, denn das schöne alte Herrenhaus, das sie dort kaufte, erinnerte sie an das Haus ihrer Kindheit. Violet war, vergessen Sie das nicht, die Tochter eines Pfarrers. Das Bild, das sie verbrannte, als Janine hinzukam, zeigte ein großes Haus neben einer Kirche. Zweifelsohne das Vikariat ihrer Heimatgemeinde, die einzige Erinnerung an ihr früheres Leben, die sie bei sich behielt. Diese letzte Verbindung wurde brutal zerstört, wie alles andere in Violets Leben vorher zerstört worden war, als sie viele Jahre später einen unerwarteten Brief von Lawrence Smeaton erhielt, Olivias früherem Schwager. Wir können nur spekulieren, wie Violets Reaktion auf diesen Brief ausgesehen hat. Unglauben, Staunen, Panik, Wut – ein Augenblick allergrößten Entsetzens für sie. Da sie wusste, wie sehr Lawrence und Olivia sich zerstritten hatten, hätte sich Violet niemals träumen lassen, dass er sie jemals wiedersehen wollte. Lawrence Smeaton jedenfalls schrieb einen Brief und unterbreitete ihr darin den Vorschlag, sich zu treffen und den alten Streit zu begraben. Auch er wurde – bitte verzeihen Sie, Brigadier! – älter und wollte sein Haus bestellen, wie man so schön sagt.« Markby legte eine weitere Kunstpause in seiner Erzählung ein und trank einen Schluck von seinem Wein.

»Lass die Sonne nicht über deinem Zorn versinken«, sagte Lawrence.

»So steht es in der Bibel, nicht wahr? Ich wollte nicht in mein Grab oder Olivia in ihres gehen lassen, ohne mit ihr Frieden geschlossen zu haben. Es schien nicht richtig. Marcus hätte es nicht gewollt.«

»Ganz recht. Doch Violet in ihrer Rolle als Olivia hatte schreckliche Angst vor einer Begegnung. Sie hätte Sie nicht eine Minute lang täuschen können, Brigadier. Sie kannten beide Frauen, genau wie Ihre Gemahlin. Also rief Violet ihren Anwalt an und bestand darauf, dass er sich mit Lawrence Smeaton in Verbindung setzte und absolut deutlich machte, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte.« Markby lächelte freudlos.

»Wissen Sie, vielleicht wäre sie tatsächlich damit durchgekommen. Niemand hätte je etwas erfahren. Zwei Dinge machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Erstens, Olivia war in ihrer Jugend berühmt – oder berüchtigt, je nachdem – genug gewesen, um einen Nachruf in der Presse zu verdienen, und eine erfahrene Journalistin wurde auf ihre Fährte gesetzt.« Markby nickte in Wynnes Richtung, die das Kompliment dankbar entgegennahm.

»Die Journalistin roch sofort, dass an der Sache etwas faul war. Sie konnte nicht sagen warum, doch ihr Instinkt, geboren aus langjähriger Erfahrung, sagte ihr, dass dort irgendwo eine Schlagzeile lauerte. Sie glaubte, es hätte etwas mit dem tödlichen Unfall zu tun, der Violets Leben beendete, ihrem Sturz die Treppe hinunter. Doch ich bin der Meinung, dass es tatsächlich ein Unfall war, verursacht durch die abgenutzten Pantoffeln, genau wie es bei der Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache aktenkundig gemacht wurde. Das eigentliche Verbrechen, die Vertauschung der Identitäten und der Diebstahl des Erbes, hatte Jahre vorher stattgefunden. Was Violet letzten Endes jedoch verriet, war das Pony.«

»Wie das?«, fragte Rory Armitage verwirrt.

»Brigadier?« Markby drehte sich zu Lawrence Smeaton um.

»Olivia war allergisch gegen Pferde«, sagte Lawrence.

»Meine Frau ist absolut sicher. Olivia ertrug nicht einmal die Nähe eines Pferdes. Sie bekam einen üblen Ausschlag und andere Symptome wie Heuschnupfen und Ähnliches, nur schlimmer.«

»Meine Güte!«, sagte Burnett und stieß einen Pfiff aus.

»Verstehen Sie«, fuhr Markby fort.

»Olivia hätte niemals ein Pony und einen Einspänner gekauft, um damit durch die Gegend zu fahren, wie es Violet für einige Jahre getan hat, geschweige denn, sich ein Pony als Haustier gehalten. Doch Violet liebte Pferde. Sie bestand sogar darauf, dass ihr letztes Pony auf der Koppel begraben wurde, auf der es jahrelang gestanden hatte. Außerdem konnte sie überhaupt nicht Auto fahren. Viele Jahre lang war der Einspänner ihr einziges Transportmittel, und es war ihr Bedürfnis, mobil zu sein, das sie dieses Risiko eingehen ließ, ein Pony zu kaufen. Sie muss gewusst haben, dass Olivia allergisch gegen Pferde war und niemals ein Pony angeschafft hätte. Sie verkaufte den Einspänner, sobald sie keine Verwendung mehr dafür hatte. Ernie Berry kaufte ihn, und er rostet jetzt noch auf seinem Hof vor sich hin. Doch das Pony war Violets Haustier … Sie konnte es nicht ertragen, sich von dem Tier zu trennen, und das war es, was sie letzten Endes verriet.« Nachdem Markby geendet hatte, herrschte lange Zeit Schweigen. Jeder dachte über das Gehörte nach. Tom Burnett brannte eine drängende Frage auf den Lippen, deswegen ergriff er als Erster das Wort, nachdem er sich geräuspert hatte.

»Nur interessehalber«, begann er und errötete, als ihn alle ansahen.

»Ich frage mich, was nun mit ihrem Testament wird? Ich meine, dem Testament, das Olivia … äh, Violet verfasst hat, in dem sie den größten Teil ihres Vermögens Wohltätigkeitsorganisationen gespendet und Janine, den Berrys, Julie Crombie, Ihnen, Rory, und mir kleine Geldbeträge vermacht hat? Es war nicht ihr Geld, oder?«

»Ich möchte etwas dazu sagen«, meldete sich Lawrence Smeaton zu Wort.

»Ob Olivia nun ein Testament zu Gunsten Violets verfasst hat oder nicht, ich bin mir absolut sicher, dass sie es früher oder später getan hätte, wäre sie nicht bei diesem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ihr Wunsch wäre es gewesen, dass Violet ihre Jahre ohne finanzielle Sorgen leben konnte. Als ein Mann des Militärs bin ich vertraut mit Soldatentestamenten, die durchaus auch mündlich sein können, ein Wunsch, der vor Zeugen geäußert wird. Mir ist bewusst, dass dies für Zivilisten nicht gilt. Es ist eine Schande, dass Violet alle Briefe Olivias vernichtet hat, denn wenn Olivia in einem Brief klare testamentarische Verfügungen zu Violets Gunsten getroffen hat, wäre sie vielleicht imstande gewesen, das Erbe zu beanspruchen. Nichtsdestotrotz ist meine persönliche Meinung die eines Soldaten. Man kann nicht immer nur mit Papier herumwedeln. Ich glaube, dass Olivias letztem Wunsch Genüge getan wurde, auch wenn es auf eine seltsame Weise geschah. Niemand wurde betrogen oder getäuscht, wie es gerade eben in dieser Runde angedeutet wurde. Olivia besaß keine nahen Verwandten. Der Verlierer, falls es überhaupt einen gibt, war höchstens die Krone.« Er verstummte, und Markby fuhr fort:

»Ironischerweise hätte wahrscheinlich selbst die Krone die Umstände anerkannt und ihr einen Teil des Vermögens zugesprochen, wäre Violet ehrlich gewesen. Doch Violet ließ es nicht so weit kommen. Es war alles höchst ungewöhnlich, und Anwälte hätten sich die Köpfe zerbrochen. Doch ich stimme dem Brigadier zu; Olivias Testament wurde in ihrem Sinn erfüllt.«

»Ganz recht«, sagte Smeaton.

»Und das, verdammt noch mal, ist schließlich der Grund, aus dem ein Testament gemacht wird.«

»Außerdem«, sagte Markby und lächelte, »bleibt alles, was wir hier besprechen, reine Spekulation. Wir nehmen an, dass es so gewesen ist – doch es wäre recht schwierig, unsere Vermutungen vor einem Gericht zu beweisen. Ein Testament für ungültig zu erklären mit nichts mehr als ein paar alten Hochzeitsfotos in der Hand? Die Wohltätigkeitsorganisationen, die von diesem Testament profitieren, hätten gegen jeden derartigen Versuch gerichtliche Beschwerde eingelegt.«

»Genau«, sagte Lawrence Smeaton.

»Soweit es mich betrifft, ist die Angelegenheit damit erledigt, ein für alle Mal. Wir hier in diesem Raum kennen nun die Wahrheit, und das genügt. Es gibt keinen Grund, dass sie diese vier Wände verlassen sollte. Es würde eine ganze Menge Aufregung verursachen, und das wäre äußerst unklug. Sind wir alle damit einverstanden?« Niemand sagte etwas dagegen.

Später an jenem Abend, als die Sonne unterging, spazierten Alan und Markby die Straße nach Rookery House hinunter. Sie standen vor dem Tor, blickten durch die eisernen Gitterstäbe und über die Auffahrt zu dem alten georgianischen Gebäude. Im Licht der versinkenden Sonne leuchtete das Mauerwerk in warmen Honigfarben, und die Fenster funkelten und glitzerten rosa. Es war ein richtiges Märchenschloss, gebaut aus Zuckerstückchen.

»Es ist wunderschön«, sagte Meredith leise.

»Doch ich könnte niemals dort leben, nicht nach allem, was inzwischen passiert ist.«

»Nein«, sagte er.

»Ich auch nicht. Es war nur ein Tagtraum. Eine kleine Spinnerei.« Er sah sie von der Seite her an. Die Abendsonne ließ ihre Haare in einem tiefen Rötlichbraun glänzen. So dicht war sie noch nie davor gewesen, die Vorstellung zu akzeptieren, dass sie vielleicht eines Tages gemeinsam in ein Haus ziehen würden. Es war nicht viel, doch es war in gewisser Weise ein Fortschritt, und das musste für den jetzigen Zeitpunkt reichen.

»Willkommen zu Hause!«, begrüßte Paul die beiden und schenkte den Wein ein.

»Wir sind froh, euch heil und gesund wiederzusehen.«

Sie alle hoben ihre Gläser.

»Ich hoffe sehr, dass Parsloe St. John sich nun wieder in den verschlafenen Ort zurückverwandelt, der er immer zu sein schien, wenn wir Pauls Tante besucht haben«, sagte Laura.

»Wenn ich in diesem Cottage Urlaub mache, dann möchte ich sicher sein, dass draußen kein Psychopath im Gebüsch umherschleicht!«

»Wo wir gerade von Irren sprechen«, sagte ihr Ehemann.

»Was ist eigentlich aus diesem schrecklichen Jungen geworden?«

»Im Augenblick wird er von Ärzten untersucht«, antwortete Markby.

»Ich vermute, er wird psychiatrische Hilfe erhalten. Ich hoffe es jedenfalls sehr. Er braucht sie ganz dringend.«

»Was noch lange nicht bedeutet, dass er sie bekommt«, sagte Paul düster.

»Vielleicht sperren sie ihn auch nur für ein paar Monate ein, erklären ihn anschließend für gesund und lassen ihn auf die Gesellschaft los, damit er wieder durch die Straßen streunen und unschuldige Passanten erschrecken kann.«

»Es geht doch nichts darüber, allen Dingen eine gute Seite abzugewinnen!«, sagte seine Frau.

»Warum gehst du nicht in die Küche und siehst nach dem Braten?«

»Offen gestanden, die Pause hat mir richtig gut getan«, sagte Markby, während er sich zurücklehnte und die Beine ausstreckte.

»Ich fühle mich ausgeruht und erfrischt. Wie steht es mit dir?« Er drehte sich um und sah Meredith an.

»Hmmm?« Ihr Blick ging geistesabwesend ins Leere, und sie schien seine Frage nicht gehört zu haben.

»Laura, wie lange hast du dieses Bild eigentlich schon?«, fragte sie an Markbys Schwester gewandt.

»Welches Bild?« Laura folgte Merediths Zeigefinger.

»Ach das! Es hing in Tante Florries Cottage in Parsloe St. John, und Paul hat es mit hierher gebracht, als seine Tante starb. Es gefiel ihm so gut. Du erkennst das Motiv bestimmt wieder, nicht wahr? Das dort sind die Stehenden Steine, wo du Kevin und Sadie begegnet bist, Meredith. Das Gemälde ist gar nicht schlecht, wenn auch ein wenig primitiv. Du würdest nicht glauben, wer es gemalt hat. Der Gastwirt des King’s Head Pubs, Mervyn Pollard!«

Laura schürzte den Mund und betrachtete Pollards Kunstwerk.

»Es ist nicht gerade mein Geschmack, und ich kann mir nicht vorstellen, was Tante Florrie daran gefunden haben soll. Vielleicht hat Mervyn es ihr geschenkt. Ich bezweifle, dass sie es gekauft hat. Aber die Geschmäcker sind eben verschieden, nicht wahr?«